Titel, Themen, tückische Glossen - Entdeckungsreise durch 30 Jahrgänge fiftyfifty. Ein ABC mit Mut zur Lücke
A: Allererste Ausgabe anno 1995: Mit dem programmatischen Aufmacher „Wohnen ist ein Menschenrecht“ kam sie daher, 20 Seiten Umfang, schwarz-weiß mit zusätzlicher Schmuckfarbe Gelb. Das Heft kostete „2 Mark, davon 1 Mark für den/die VerkäuferIn“. Editorial vom fiftyfifty-Schirmherrn Bruder Matthäus, Grußworte von Oberbürgermeisterin und Bürgermeistern, hinten eine ganzseitige Anzeige der Rheinischen Post. Artikel zur akuten Obdachlosigkeit in Düsseldorf, über Wandbilder, das Leben auf der Straße, die Befreiung der Stadt von Faschismus und Krieg, die gerade 50 Jahre zurücklag. „April/Mai 1995“ lautete der Vermerk auf der Titelseite – geplant war also ein nur zweimonatliches Erscheinen. Dagegen rebellierten die Verkäufer*innen der ersten Stunde schon bald und fiftyfifty wurde Monatsblatt.

B: Bekannte Autor*innen hat unser Straßenmagazin seit seinen Anfängen zu bieten, wenn auch nicht im Überfluss. Ingrid Bachér zählt dazu, die uns so treu verbundene Schriftstellerin, ihr Kollege Feridun Zaimoglu, der Armutsforscher Christoph Butterwegge, Tina Teubner, Christian Ehring und andere Kabarettisten. Und
wenn uns in großen Blättern ein Beitrag besonders anspricht, wie kürzlich etwa einer der britischen Autorin A. L. Kennedy – „Liebe Deutsche …“ lautete seine Überschrift –, bitten wir um Nachdruckgenehmigung und freuen uns, ein wenig zur Weiterverbreitung beitragen zu können. Im Übrigen gestehen wir fiftyfifty-Schreiber*innen uns mittlerweile auch selbst eine gewisse „Bekanntheit“ zu, vor allem bei unseren treuesten Leserinnen und Lesern.
C: Charmante Titelbilder. Nun ja, das ist natürlich auch Geschmacksache. Dem einen gefällt der mit modernem Strich gezeichnete Immanuel Kant, der anderen eher der Neujahrs-Mops mit Hütchen. Die sympathische Schauspielerin Anna Schudt, so fand ich, machte sich gut auf dem Titel, aber durchaus auch Spitzwegs „Armer Poet“, als es um die „Armut in der Literatur“ ging. Eine Zeitlang versuchten wir im Team übrigens, die von Monat zu Monat schwankenden Verkaufszahlen uns mit der Zugkraft des jeweiligen Titelmotivs zu erklären. Aber da waren wir wohl auf dem Holzweg. Ein erkennbares Muster gibt es nicht. Andere, oft banale Faktoren scheinen mehr ins Gewicht zu fallen, wie das Wetter oder die saisonale Abwesenheit rumänischer Verkäufer*innen

D: Dankbare Leserschaft. Sie überschüttet uns nicht mit Lob und Zuspruch, das könnte auf die Dauer ja auch peinlich werden, aber es kommen doch oft Rückmeldungen, die uns anspornen. „Immer wieder ein tolles Heft, immer wieder spannende Artikel, Wissen, das sonst nicht publiziert wird“, schrieb erst kürzlich eine Leserin, einer anderen war unser Titelbeitrag zur Migration „aus der Seele gesprochen“ und jemand stufte fiftyfifty als „Pflichtlektüre“ ein. Sie glauben gar nicht, wie aufmunternd solche Worte wirken. Also bitte ruhig weiter so. Und vergessen sie darüber auch ihre Kritik nicht.
E: Ernsteste Themen. Ernster konnte eine Ausgabe unseres Magazins nicht an die Öffentlichkeit treten: Der Titel in blutroten Rauch gehüllt, darauf die Zeile „Es trifft uns der Tod“. Wochen zuvor hatte Putins Angriff auf die Ukraine begonnen. Ingrid Bachér stellte uns ihre ersten eindringlichen Tagebuchaufzeichnungen zur Verfügung. Ein großer Text der Erschütterung, doch auch mit Sätzen wie: „Ich möchte eine weiße Fahne hissen. Ein Krieg muss zum Frieden führen.“ Heiß und kalt konnte es einem aber auch bei Lektüre des Weltklima-Szenarios „Ein Tag im Jahr 2050“ werden – inzwischen erst recht, wo doch in den letzten Jahren alle globalen Ziele gerissen wurden. Ernstes Problem beim Thema Ernst: fiftyfifty sollte trotz alledem auch eine gewisse Zuversicht nicht aufgeben, nicht wahr?

F: Frieden ist das A und O, auch und gerade für ein Projekt, das dafür eintritt, dass alle ein bezahlbares Dach überm Kopf haben. „Als halb Düsseldorf obdachlos war“, lautete eine Artikelüberschrift im legendären Heft 1 von fiftyfifty. Sie bezog sich auf den Trümmerhaufen 1945. Fortschritte im Kampf gegen Armut, weltweit wie im eigenen Land, erfordern eine Eindämmung der Kriege, des Waffenhandels, der maßlosen Ressourcenvergeudung in der Rüstung. Sie erfordern ebenso von Politik, Diplomatie und Zivilgesellschaft die beharrliche Suche nach Lösungen. 2023 brachten wir in fiftyfifty eine Serie über „Friedensdenker*innen“: Erasmus von Rotterdam, Immanuel Kant, Bertha von Suttner, Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi. Bescheidener Versuch, eine elementare geistige Tradition wachzuhalten.
G: Große Geister aus Geschichte, Kunst, Philosophie waren es uns ohnehin über all die Jahre wert, in Erinnerung gebracht zu werden, oft sogar auf dem Titel. Das mag für ein Straßenmagazin ungewöhnlich sein, dabei geht es aber doch „nur“ um die Quellen von Humanismus und Aufklärung, Freiheits- und Gerechtigkeitsstreben. Hier im zeitlichen Rückwärtsgang, von den jüngsten bis zu den ältesten Heften, eine kleine Auswahl: Ernst Bloch, Voltaire, Erich Kästner, Ludwig van Beethoven, Karl Marx, Thomas Morus, Jan Hus, Henry Dunant, Franz von Assisi, Clara Zetkin, Charlie Chaplin, Goethe, Brecht, Heine, Otto Pankok. Selbst so sagenumwobene Gestalten wie Sankt Martin und Diogenes von Sinope tauchten auf – und das ist auch gut so.

H: Häufigste Themen in fiftyfifty sind, wie zu erwarten, die Wohnungskrise, die sich für immer größere Kreise zur sozialen Frage schlechthin entwickelt; die gleichzeitig ungebremst weiterwachsende Vermögensungleichheit („ökonomischer Feudalismus“), was wiederum mit dem ungerechten Steuersystem, auch Steuerhinterziehung, Steueroasen, Geldwäsche & Co. zu tun hat; ein weites Themenfeld tut sich ferner mit Blick auf Armut und Armutsgefährdung auf – von den populistischen Angriffen auf das Bürgergeld über die prekäre Lage Alleinerziehender oder die „Tafeln am Limit“ bis hin zu all den Kollateralschäden wie Sucht, Einsamkeit, Prostitution usw. Machen wir uns nichts vor: Die „sozialpolitische Zeitenwende“ (Christoph Butterwegge) hat längst begonnen.
I: Interviews. Wenn Prominente auch eher selten mal eben zur Feder greifen, um einer Straßenzeitung einen Exklusivbeitrag zu schreiben, so gibt es doch die Möglichkeit des Interviews. fiftyfifty hat davon in all den Jahren nicht zu knapp Gebrauch gemacht. Die Wahlkandidat*innen Laschet, Scholz, Habeck und Wagenknecht stellten sich 2021 unseren Fragen, Schreibende wie Navid Kermani und J. R. Rowling, Max Uthoff und andere Kabarettisten, Stars wie Nena, Udo Lindenberg und – jawohl – Bob Dylan. Die Zahl der Gespräche mit den Toten Hosen, unseren besonderen Freunden und Förderern, dürfte längst das Dutzend überschritten haben. Uns gelangen sogar feine Unterhaltungen mit Heine oder Vincent van Gogh, und kein Satz von ihnen war erfunden – nur erlesen.
K: Kabarett, zumal das politische, kann Denkanstöße geben, falsche Gewissheiten platzen lassen und für etwas mehr heitere Aufmüpfigkeit im Lande zu sorgen. Deshalb fallen wir seit langem auf der Seite 3 einer jeden Ausgabe mit einer kabarettistischen Kostprobe ins Haus. Sie macht zugleich auf den jeweiligen Künstler und sein Gastspiel aufmerksam. Oft sind dabei das zakk oder das Kom(m)ödchen im Spiel und ermöglichen uns eine Kartenverlosung. Gewiss ist ein gedruckter Kabarett-Text nicht das Gleiche wie seine Umsetzung auf der Bühne. Das erlebte ich neulich schlagend am Beispiel einer Szene aus dem aktuellen Kom(m)ödchen-Programm: Ein nassforscher Makler dreht drei Wohnungssuchenden einen schlichten Pappkarton an. Das las sich schon sehr amüsant. Aber über die Inszenierung dann lachte ich mich schief.

L: Literatur möchten wir nicht missen, weder persönlich noch in fiftyfifty. Es wird in Redaktionskreisen (wir reden von einer Handvoll Leuten) noch begeistert gelesen, was ja leider auch ein Altersindiz ist – Romane, Sachbücher, Essays & Co. Mindestens zwei neuere Titel stellen wir in jeder Ausgabe vor, und da das nun schon seit 1995 so läuft und außer der Reihe oft weitere Bücher dazukommen, etwa als Basis für größere Eigenartikel – nehmen wir als Beispiel Stefan Selkes „Schamland. Die Armut mitten unter uns“ (2013) –, dürfte die Zahl aller in fiftyfifty vorgestellten Bücher an die 1.000 betragen. Kürzlich erreichte uns dieser originelle Stoßseufzer einer Leserin: „Sehr geehrte Damen und Herren, könnten Sie bitte weniger gute Bücher besprechen? Ich komme mit dem Lesen kaum noch hinterher.“
M: Migration ist spätestens seit dem jüngsten Bundestagswahlkampf, der uns solche Populismen wie das Merz‘sche „Zustrombegrenzungsgesetz“ samt feixender Zustimmung der AfD beschert hat, eines der permanenten Themen, die auch uns fordern. Ende 2023 dokumentierten wir einen Aufruf von 270 Wissenschaftlern, in dem es hieß: „Die Debatte über Flucht und Asyl wird weitestgehend faktenfrei geführt.“ Der Befund bestätigt sich nun dramatisch. Zu denen, die dagegenhalten, gehören die evangelische und die katholische Kirche. In einem gemeinsamen Brief von Ende Januar 2025 an alle Bundestagsabgeordneten heißt es: „Die beiden großen Kirchen weisen darauf hin, dass die nun vorgeschlagenen Gesetzesänderungen nach aktuellem Wissensstand keinen der Anschläge verhindert hätten.“ Eine ausführliche juristische Stellungnahme lag bei.
S: Sonderhefte außer der Reihe gab es immer wieder. Etwa mit „Literatur der Straße – Obdachlose beschreiben ihre Welt“ (1999 und 2000), ferner mit Geschichten so hochkarätiger Autor*innen wie Alex Capus, Arno Geiger, Siegfried Lenz, Juli Zeh (2010) und ein Jahr darauf Senta Berger, Wladimir Kaminer, Ingrid Noll, Martin Suter und anderen (2011) – zwei beachtliche Gemeinschaftsprojekte der deutschsprachigen Straßenzeitungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Auch ein Heft mit dem schönen Titel „Hund und Mensch in Literatur und Prosa“ gab es, in Kooperation mit dem Literaturbüro NRW.

T: Tückische Glossen aus unserer Endlosrubrik „Zwischenruf“ fordern hin und wieder ihre – zum Glück völlig unblutigen – Opfer. Das ist an sich nicht Ziel dieser satirisch getönten Zeitkommentare, kann aber passieren. 2011 war es die zusammenfabulierte Mär über einen Obdachlosen namens Ossi, den ich in seinem Gartenhäuschen fotografiert hätte, woraufhin kurz danach das Bild auf rätselhafte Weise in der Weltpresse aufgetaucht sei, als angebliches Foto des fernsehenden Osama bin Laden. Ein Leser riet mir zu rechtlichen Schritten. 2015 erfand ich einen Shitstorm von Verrissen des fiftyfifty-Glossenbands „Botox für alle“ – weder RP noch Welt noch Süddeutsche ließen ein gutes Haar daran; einige Leser*innen bekundeten mir ihr solidarisches Mitgefühl. Das tat gut und machte zugleich ein schlechtes Gewissen.
Z: Zukunft lässt sich nicht vorhersehen, aber sie liegt auch nicht im völligen Dunkel. Ein halbwegs informierter Blick auf die Welt von heute genügt, eine Ahnung zu gewinnen. Es ist keine beruhigende Ahnung. Krisen allenthalben: Klima, Umwelt, Demokratie, Sozialstaat, Kriege, Flucht, Big Data … Wir stehen im Bann einer verwirrenden Großkrise. Sie ist menschengemacht, und doch scheint es „einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.“ (Mark Fisher) Es herrscht ein fataler Mangel an Zukunftsentwürfen. In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Stattdessen tagespolitische Geschäftigkeit, „Alternativlosigkeit“, „Das war schon immer so“. Dystopien gibt es im Dutzend. Aber menschenfreundliche konkrete Utopien? Fragen Sie am besten Ihren Arzt. Vielleicht liegt hier eine Aufgabe auch für fiftyfifty: Zu sagen, wogegen wir sind – und noch besser deutlich zu machen, wofür wir stehen, und wo überall im gesellschaftlichen Leben sich die Keime einer besseren Zukunft regen.

Auf www.fiftyfifty-galerie.de finden sie unter dem Stichwort EPAPER in der Menüleiste oben rechts sämtliche seit 1995 erschienenen Ausgaben als PDF-Dateien. Es fehlen nur einige Sonderhefte und das jeweils aktuelle Heft, das Sie auf der Straße oder online erwerben können.