Akademie der Straße - Obdachlose machen Kunst

„Bilder sind meine Seele“

fiftyfifty und die Kunstprofessorin Katharina Mayer haben mit Obdachlosen die „Akademie der Straße“ gegründet.

Katharina Mayer, eine bedeutende Vertreterin zeitgenössischer Fotografie, hat in ihrem Oeuvre immer wieder auch obdachlose Frauen und Männer inszeniert und abgelichtet. Lange bevor sie selbst Professorin an der UE-University in Berlin wurde, hat sie in der berühmten Klasse von Bernd und Hilla Becher Kunst studiert. Ihre Werke befinden sich in hochkarätigen Sammlungen und werden international gezeigt. Mit ihren Ausstellungen in der fiftyfifty-Benefiz-Galerie hat sie der oft negativ konnotierten Wahrnehmung von Obdachlosen in Armut und Ausgegrenztsein andere Bildnisse entgegengesetzt, die die Würde der Menschen im Abseits, ihren Stolz und ihre Eigenwilligkeit betonen.
Nun hat Katharina Mayer zusammen mit einigen Obdachlosen die „Akademie der Straße“ gegründet, in der im Kontext von fiftyfifty Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt draußen haben, künstlerisch tätig werden - wobei sie die eigene, nach gesellschaftlichen Maßstäben oft als gescheitert angesehene Lebensgeschichte in Zeichnungen, Malerei, Fotografie und Texte einfließen lassen. Auf diese Weise werden Erfahrungen von Ablehnung bis Diskriminierung transzendiert und in eigenwillige, sehr persönliche und berührende Kunstwerke verwandelt; anknüpfend an die Tradition von Art Brut  - zu Deutsch: Rohe Kunst.
Aber natürlich geht es auch und in erster Linie um die Freude am Schaffen selbst. Katharina Mayer zitiert den Philosophen Arthur Schopenhauer, wenn sie künstlerische Betätigung als „Kontemplation im Gegenwartsmoment“ bezeichnet und als „absichtsfreies Wohlbefinden“. Dem widerspricht allerdings ihre 64jährige Studentin Katrin, die seit 13 Jahren schon fiftyfifty verkauft: „Natürlich verfolge ich eine Absicht, wenn ich immer wieder Herzen mit Aquarellfarbe zu Papier bringe“, sagt sie.  Das Herz sei ein Ursymbol mit zwei runden Formen oben und einer spitzen unten, symmetrisch angelegt und organisch wie eine Blume. „Wir brauchen mehr Herz in dieser kaputten Welt“, proklamiert die Mutter einer Tochter und Großmutter von zwei Enkelkindern, die bedauert, dass ihre Lieben sich von ihr distanziert haben. Wer weiß, ob die Fülle ihrer in vielfarbig hingehauchten aus leichten Aquarell-Bögen bestehenden Herzen nicht auch ein Ausdruck dieser Sehnsucht sind, mit all denen, die sie im Leben vermisst, auch den verpassten Gelegenheiten, in Verbindung zu kommen.
Bei Ralf jedenfalls ist das so. Er zeigt ein naturgetreu gemaltes Portrait seiner letzten großen Liebe, die schon vor 11 Jahren wegen seines und ihres Drogenkonsums in die Brüche gegangen ist. Auch die unzähligen anderen Frauenbildnisse, schnell hingezeichnete Skizzen, erzählen von der Einsamkeit und vielleicht auch von dem Wusch, wieder eine Partnerin zu finden. Der 61jährige Akademie-Student, der in unzähligen Knast-Aufenthalten wegen des Gebrauchs illegalisierter Substanzen und Fahrens ohne Ticket sein Talent für die Malerei perfektioniert hat, beschäftigt sich künstlerisch aber nicht nur mit Motiven von Frauen. Die Aufgabe, ein Bildnis aus dem eigenen Leben zu schaffen, löste er, der sonst sehr naturgetreu, wenn auch zumeist der Phantasie entspringend, unterwegs ist, eher abstrakt. In Erinnerung seines langen Kokain-Konsums malte er mit pastösem Farbauftrag auf eine Leinwand einige weiße Linien und dazu klebte er Alufolie, in die der rauschauslösende Stoff üblicherweise auf dem Schwarzmarkt verpackt ist. Ein ganz anderes Kunstwerk wiederum ist sein kleiner Garten, den er auf einem freien Stück Erde neben dem Gehweg an seinem Platz, an dem er die fiftyfifty verkauft, geschaffen hat. Gartenkunst ist nicht erst seit den Palmen auf Verkehrsinseln von Tita Giese en vogue; Ralf kennt sich aus. Und seine Kund*innen bewundern die kleine Pflanzen-Oase, die er von Meisterhand angelegt hat. „Kunst ist Leben“, so Ralf, und: „Bilder sind meine Seele.“
Das behaupten auch Karin und Helmut, 60 und 62 Jahre alt. Beide beschäftigen sich mit Mandalas. Während Helmut bestehende Motive feinsinnig ausmalt, entwirft Karin selbst diese runden Gebilde. Malen ist für sie, die vor drei Jahren ihren Mann durch dessen Tod verloren hat, Meditation. „Das Malen beruhigt mich, es tröstet mich über Verluste in meinem Leben hinweg; ich male gerne“, erklärt sie. Kunst sei Trauerarbeit und eine Brücke zwischen dem, was sie gegenwärtig zu Papier bringe, und dem, was sie in der Vergangenheit einmal hatte. So ähnlich sieht das auch Helmut, der durch seine jahrzehntelange Suchterkrankung lange auf der Straße gelebt hat, und nun, wie alle derzeitigen Akademie-Studierenden, in einer Wohnung im Housing-First-Programm von fiftyfifty endlich weg von der Straße ist. Helmut wird regelmäßig von Depressionen geplagt und malt auch bei sich zu Hause, um die langen, einsamen Abende zu überstehen. „Es tut gut, etwas zu vollbringen, das sogar anderen beim Betrachten Freude schenken kann“, sagt er mit seiner ruhigen, immer etwas traurig  klingenden Stimme.
Ob Katrin, Ralf, Karin oder Helmut - so unterschiedlich sie sind, so unterschiedlich sind ihre Kunstwerke. Aber eines ist allen gemeinsam: Die Motive sind durchweg positiv und geben die jeweiligen Lebenstragödien offensichtlich, wenn überhaupt, nur ansatzweise wider. Aber dennoch werden mit ihrem Erschaffen schwere Lebenskrisen, Traumata, Verluste und gesellschaftliche Ausgrenzung verarbeitet.
„Eines Tages“, so die Professorin der Akademie der Straße, Katharina Mayer, „werden wir in einer großartigen Ausstellung all diese einzigartige rohe Kunst der Öffentlichkeit präsentieren.“ Bis dahin heißt es: Unverzagt weiter malen.
Hubert Ostendorf