RP | 7. Januar 2021

Die unsichtbaren Obdachlosen

DÜSSELDORF | Ihr Alter sieht man ihr nicht an. Wenn sie ihren Rollator vor sich herschiebt und sich an ihm festhält, wirkt sie älter, als sie ist, wenn sie lachend von ihrem Kater erzählt, jünger. Jessica Hardt, die eigentlich anders heißt und die auf der Straße alle nur Buffy nennen, wird am heutigen Donnerstag 34 Jahre alt. Sie hat keine eigene Wohnung, seit sie im Oktober ihren gewalttätigen Mann verließ, steht sie ohne Rückzugsmöglichkeit da. Nur weil sie bei einem Freund unterkam, musste sie nicht auf der Straße schlafen.

Damit zählt sie zu den sogenannten verdeckten Obdachlosen. Diese haben zwar keine Wohnung, leben aber auch nicht auf der Straße und werden so oft nicht als obdachlos wahrgenommen. Viele von ihnen sind Frauen. „Sie schaffen es häufig, lange Zeit nicht auf der Straße zu landen“, sagt Miriam Koch, die das städtische Amt für Migration und Integration leitet, „manchmal über Freunde, oft über prekäre Wohnverhältnisse oder sogar Zwangssituationen.“ Das Leben dort sei gefährlich. „Frauen sind auf der Straße verletzlich und angreifbar und machen sich deshalb häufig unsichtbar“, sagt auch Reinhard Knopp, der an der Hochschule Düsseldorf (HSD) dazu forscht.

Jessica Hardt hatte noch nie eine eigene Wohnung, ihr Leben ist geprägt von der Suche nach Obdach. Mit 14 hielt sie es zu Hause nicht mehr aus und floh zu ihrem Freund, zwei Jahre später übernachtete sie zum ersten Mal im Zelt. Immer wieder kam sie zeitweise unter, bei Bekannten, bei Freunden, beim jeweiligen Lebenspartner. Immer wieder musste sie vor körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt flüchten.

Und vertraute oft den Falschen. Zuletzt ihrem Ehemann, „mit ihm dachte ich, ich wäre angekommen“, sagt Hardt. Mehr als sechs Jahre lang lebte das Paar zusammen in Eschweiler bei Aachen, dann wurde er gewalttätig, schlug sie, machte ihr Angst. „Ich hatte keine Wahl, ich musste da raus“, sagt sie über ihre Flucht vor knapp drei Monaten. Vorübergehend zog sie zu einem Bekannten nach Düsseldorf. Gegen ihren Mann läuft bei der Staatsanwaltschaft Aachen ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung.

Hardt ist schwer traumatisiert, hat häufig epileptische Anfälle und ist auf Pflege angewiesen. Alleine zurechtkommen kann sie nicht. Ihre erste Anlaufstation in Düsseldorf war die Obdachlosenhilfe Fiftyfifty. „Wir kennen sie von früher“, sagt Sozialarbeiter Oliver Ongaro. Geschichten wie Hardts höre man immer wieder, sagt er, von Frauen, die geschützten Wohnraum nur in Abhängigkeit von oft gewalttätigen Männern kennen. Oft fehle es ihnen an Grundsätzlichem, für Jessica Hardt habe man zuerst Sozialleistungen und die Aufnahme in die Krankenversicherung beantragt – und einen Rollator gekauft. Pflegebett und Rollstuhl, auf die sie eigentlich angewiesen ist, sind noch in Eschweiler. Doch dorthin traut sie sich nicht zurück, bis heute nicht.

Auch Fotos ihrer Kinder befinden sich in der Wohnung. Der Kleine ist neun Jahre alt, die Älteste schon fast erwachsen. Die Kinder leben nicht bei ihr, der 34-Jährigen kommen die Tränen, wenn sie von ihnen erzählt. Ihr größter Wunsch ist ein Zuhause, auch, um sie regelmäßiger sehen zu können. „Und ich möchte einfach mal wieder in Sicherheit sein, zur Ruhe kommen.“

Die Wissenschaftlerin Anne van Rießen von der HSD kennt dieses Bedürfnis aus vielen Befragungen wohnungsloser Frauen. „Ihr Leben ist geprägt durch den prekären Alltag“, sagt van Rießen, „die Organisation von so basalen Dingen wie einem Schlafplatz, genug zu essen und Hygiene frisst bei ihnen Ressourcen, die andere frei zur Verfügung haben.“ Viele seien Gewalt ausgesetzt, hätten häufig noch nie eine feste Arbeit oder eine eigene Wohnung gehabt. „Diese Frauen brauchen vor allem Schutz und auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene, niedrigschwellige Beratungsangebote“, sagt Reinhard Knopp.

Das hat auch die Stadt Düsseldorf erkannt und eröffnet in Zusammenarbeit mit der Diakonie voraussichtlich im Frühjahr ein Haus für wohnungslose Frauen. Im Februar soll die entsprechende Vorlage in den Rat eingebracht werden. In einem ehemaligen Hotel in Stadtmitte sollen die von der Diakonie betriebenen Notschlafstellen „Ariadne“ und „kleine Ariadne“ für Frauen mit Kindern um- und ausgebaut werden. Zudem wird eine Tagesstätte eingerichtet, die nur Frauen offensteht – laut Miriam Koch bundesweit eines der ersten Projekte dieser Art. Das sei auch notwendig, sagt Antonia Frey, die bei der Diakonie den Bereich Beratung und soziale Integration leitet. „Schon jetzt sind die speziellen Frauenplätze im Obdach stark ausgelastet.“

Die Corona-Pandemie habe die Situation vieler Frauen in prekären Lebenslagen verschärft, sagt Frey, und das habe Konsequenzen: „Die Zahl der sich obdachlos meldenden Frauen nimmt zu.“ Ebenfalls ein Faktor: die auch vor der Pandemie angespannte Lage auf dem Düsseldorfer Wohnungsmarkt. Insgesamt bringt die Stadt derzeit 1300 Menschen in kommunalen Obdächern unter – darunter rund 250 Frauen. Schätzungen des Landes NRW zufolge sind aber rund ein Drittel der Obdachlosen Frauen. „Daran kann man die verdeckte Obdachlosigkeit ablesen“, sagt Miriam Koch. Viele Frauen trauten sich weder in die Tagesstätten noch in die Notschlafstellen, das Haus an der Friedrich-Ebert-Straße könne da dringend benötigte Abhilfe schaffen.

Jessica Hardt wird darauf nicht mehr angewiesen sein. Kurz vor Weihnachten ist sie in eine von Fiftyfifty vermittelte Wohnung in Rath gezogen. Ein Zimmer mit Balkon und Küchenzeile – für Hardt die Erfüllung eines Traums. Möbel hat sie zwar noch nicht, wegen des Lockdowns ist es mit dem Kauf derzeit schwierig. Doch das werde sich schon geben, sagt die 34-Jährige, „wichtig ist, dass ich endlich etwas Eigenes habe, nur für mich und meinen Kater.“