DW | 1. Dezember 2019

Vom Schlafsack in die eigene Wohnung

Besonders stolz ist André Kurkowiak auf sein Bad. Regendusche, integriertes Badradio, eine geräumige Waschbeckenarmatur: eine Einrichtung, die noch fünf Jahre zuvor unerreichbar schien. Da bezog er, heroinabhängig, ein kleines Zimmer in der Justizvollzugsanstalt. Insgesamt verbrachte er zehn Jahre auf der Straße, in Obdachlosenheimen und im Gefängnis. Jetzt nennt er seit drei Jahren 34 Quadratmeter sein Eigen. Ohne vergitterte Fenster, aber dafür mit Mietvertrag und eigenem Schlüssel.

Möglich gemacht hat das die Organisation "fiftyfifty" aus Düsseldorf. Sie verfolgt seit rund vier Jahren einen Ansatz in der Wohnungslosenhilfe, der sich "Housing First" nennt. Die Grundidee ist simpel: Wohnungslose Menschen bekommen ohne Vorbedingungen ihre eigenen vier Wände – selbst dann, wenn sie drogenabhängig oder psychisch erkrankt sind. Der Hintergedanke dabei: In einem stabilen Umfeld lassen sich Probleme, wie eine Suchterkrankung, leichter angehen. Dazu kommt: Die Neumieter sind nach ihrem Einzug nicht dazu gezwungen, an zusätzlichen Hilfsangeboten teilzunehmen. Alles passiert auf freiwilliger Basis, auch die anschließende Betreuung.

Nach zehn Jahren ohne Wohnung hat André Kurkowiak nun einen eigenen Mietvertrag

"Wir stehen auch für einen Paradigmenwechsel in der Wohnungshilfe", sagt Julia von Lindern, Sozialpädagogin und bei "fiftyfifty" zuständig für "Housing First". "Es ist eine Haltungsfrage, ob wir davon ausgehen, dass jemand erst wohnfähig sein muss, bevor er einziehen darf. Wir denken, dass man am besten lernt, einen Haushalt zu führen, indem man einen Haushalt führt."

Die Zahlen sprechen für den Ansatz: Die Erfolgsquote des Programms, also ein Verbleiben der Teilnehmer in ihren Wohnungen, wird in verschiedenen Studien nachgewiesen und auf hohe Prozentsätze zwischen 75 und 90 Prozent beziffert. Auch bei "fiftyfifty" bestätigt sich das. Von den 62 Menschen, die bisher von dem Programm profitieren konnten, sind bislang nur vier wieder zurück auf die Straße gegangen.   

Vertrauen als Basis

In Düsseldorf betreut ein Team aus sechs Mitarbeitern die Wohnungslosen von der ersten Kontaktaufnahme bis zum Einzug. "Wir begleiten die Leute vom Schlafsack in die eigene Wohnung", sagt von Lindern. Das schaffe Vertrauen. Und es ist essentiell für den "Housing First"-Ansatz, meint Nora Sellner, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Sozialwesen an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen. Der Ansatz sehe vor, dass "multiprofessionelle Teams raus gehen, die Menschen dort aufsuchen, wo sie gerade sind und sehr niedrigschwellig versorgen." So ein multiprofessionelles Team kann einen Sozialarbeiter, einen Psychiater und eine Ärztin umfassen.

Sozialarbeiterin Julia von Lindern betreut mit ihrem Team 54 Wohnungen in Düsseldorf

André Kurkowiak geht noch heute, trotz eigener Wohnung, täglich in das Gemeinschaftscafé von "fiftyfifty". Er hat Vertrauen aufgebaut, kennt die Mitarbeiter und andere ehemalige Wohnungslose: "Ich bin sehr glücklich in meiner Wohnung, aber manchmal bin ich schon auch einsam". Das sei tatsächlich ein Problem, dass Depressionen in der eigenen Wohnung auftreten können, meint Julia von Lindern. Nur, weil die Menschen eine eigene Wohnung hätten, seien nicht alle Probleme gelöst. Manche blieben drogenabhängig oder alkoholkrank.

Auch André Kurkowiak geht jeden Tag zum Arzt, um wegen seiner Heroinabhängigkeit das Ersatzprodukt Methadon zu schlucken. Alkohol trinkt er ebenfalls regelmäßig. Das werde er auch in diesem Leben nicht mehr loswerden, meint er. "Deswegen verlieren die Menschen aber ihre Wohnung nicht", sagt von Lindern. "Wenn sie uns kleinlaut gestehen, dass sie wieder getrunken haben, sagen wir: Das passiert. Und wie lösen wir das nun?"

Vom Ursprung zur nationalen Strategie

Diese Herangehensweise geht zurück auf den Ursprung von "Housing First". Ursprünglich wurde der Ansatz in New York entwickelt und hatte eine klare Zielgruppe: Langzeitwohnungslose mit psychischen Erkrankungen und Suchtproblemen. Inzwischen wird der Ansatz in abgewandelter Form nicht nur in den USA verfolgt, sondern hat sich in mehreren europäischen Ländern etabliert. Finnland hat ihn sogar zur nationalen Strategie erklärt – und die Zahl der Wohnungslosen als einziges Mitgliedsland der Europäischen Union gesenkt.

Ob das ausschließlich auf "Housing First" zurückzuführen sei, lässt sich nicht eindeutig sagen, meint Nora Sellner. "Was man aber sagen kann, ist, dass Finnland eine klare Strategie hat, die über das ganze Land hinweg umgesetzt wird und werden soll. Sie integrieren diese Haltung des Housing First-Ansatzes, dass jeder Mensch ein Recht auf Wohnen hat, und das ist auch bei der Politik angekommen. Das ist etwas, was wir hier in Deutschland erst noch erreichen müssen."