Westdeutsche Zeitung | 22. November 2019

Obdachlose Frauen sehen sich Film über obdachlose Frauen an

In den folgenden Jahren lebte Sandra zeitweilig auf der Straße, in Wohnheimen und anderen sozialen Einrichtungen für Wohnungslose in Düsseldorf, Bayern und Paris „Meist waren es gemischte Angebote“, erinnert sie sich. Lange hielt sie es nie irgendwo aus, denn immer wieder war sie mit Männern konfrontiert, die in ihr ein hilfloses Objekt sahen, das bereit ist, für ein Dach über den Kopf, mit ihnen Sex zu haben. „Das ist ein Problem, das wohnungslose Frauen von Männern in dieser Situation unterscheidet“, erklärt Julia von Lindern. Frauen seien weitaus häufiger in abhängigen Verhältnissen gefangen als Männer. „Sie sind auch weit häufiger nicht allein, haben Kinder oder eine Beziehung, während wohnungslose Männer viel isolierter leben“, fügt die Sozialarbeiterin hinzu, die sich seit zehn Jahren bei der Obdachlosenzeitung und Galerie „Fifty-Fifty“ engagiert.

Sandra Martini war eine der ersten Düsseldorferinnen, die an dem von „Fifty-Fifty“ 2014 initiierten innovativen Wohnprojekt „Housing first“ teilnehmen. Das Straßenmagazin kauft dafür Immobilien an und vermietet dann Appartements an Bedürftige wie Sandra Martini, die auf diese Weise ohne Druck eine Chance erhalten, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Gemeinsam mit Mirjam Bensch (43) gehört Sandra Martini auch zum Team der „alternativen Stadtführungen“. Die Frauen nehmen Interessierte mit auf einen zweistündigen Streifzug durch Düsseldorf, so wie Wohnungslose die Stadt erleben. „Wir möchten, dass die Leute mit unseren Augen sehen, wie Wohnungslose leben“, bringt Sandra das Konzept dahinter auf den Punkt.

Doch nicht nur mit den alternativen Stadtführungen macht die 53-jährige auf die Situation der „Unsichtbaren“, wie sie in dem französischen Spielfilm von Louis-Julien Petit genannt werden, aufmerksam. Sie „glänzt“ als Autorin und Schmuckdesignerin. Schreibt über das, was sie erlebt und sieht, kreiert Ketten aus verschiedensten Materialien, wie Jeansstoff und Strohhalme. „Upcycling liegt doch im Trend“, meint Sandra dazu.

„Wir möchten nicht nur beispielhaft für Wohnungslose stehen, sondern vor allem auch eine Stimme für die Frauen sein, die auf der Straße oder in abhängigen Verhältnissen leben“, gibt Mirjam Bensch dem Publikum im Metropol-Kino mit auf den Weg, das nach dem Spielfilm feststellt, die Frauen in Frankreich kennen die gleichen Probleme wie die Frauen in Düsseldorf.

Im Großraum Düsseldorf leben rund 3500 Wohnungslose in städtischen Einrichtungen, davon ein Drittel Frauen., Stand Juni 2018, Tendenz steigend. Allein zwischen 2016 und 2018 stieg die Zahl um das Dreifache.