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Rheinische Post | 11. Juni 2011

Christof,lebe wohl

DÜSSELDORF

Als sie Christof am zweiten Weihnachtsfeiertag 1983 zur Welt brachte, hatte Helga noch von einer glücklichen Familie geträumt. Der Traum zerplatzte, als ein paar Monate später ihr Mann die kleine Familie verließ.

Christof A. hat fünf Jahre lang das fiftyfifty-Magazin verkauft. Foto: fiftyfiftySchon damals, sagt sie, war Christof nicht einfach. Hyperaktiv würde man heute wohl sagen, womöglich ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) diagnostizieren. Damals aber war er bloß ein "schwieriges Kind". Und die Mutter, die aus einer früheren Beziehung einen damals zweijährigen Sohn zu versorgen hatte, irgendwann völlig überfordert.

Als sie ihren dritten Sohn zur Welt brachte, kam sie mit Christof überhaupt nicht mehr zurecht. Das eifersüchtige Kind kam zu Pflegeeltern nach Langenfeld. Wenn die Mutter ihn besuchte, "war er ganz normal". Wenn sie wieder ging, verletzte er sich selbst, versteckte sich im Kindergarten unter Tischen und Bänken, sprach nur noch unverständliches Zeug. Helga holte ihn nach Hause. Das ging eine Zeit lang gut, sagt sie. Und dann war sie es, die nicht mehr konnte. Kai, der jüngste, kam zu seinem Vater, Christof ins Heim.

InfoFiftyfifty

Seit 16 Jahren kümmert sich die gemeinnützige Organisation um Obdachlose im Raum Düsseldorf. Bedürftige verkaufen das gleichnamige Straßenmagazin, der Erlös wird halbe-halbe (fiftyfifty) zwischen Verkäufern und der Organisation geteilt. Mitbegründer war Bruder Matthäus von der Ordensgemeinschaft der Armen Brüder des Hl. Franziskus.

fiftyfifty hat mehr als 3000 Obdachlose in Wohnungen untergebracht, verteilt Kleiderspenden und bietet medizinische und tiermedizinische Hilfe an.

Seinen Vater hat er immer kennenlernen wollen, sagt Helga. Kaum hatte er Schreiben gelernt, da schickte er Briefe über das Jugendamt. Dass niemals Antwort kam, sagt die Mutter, "darunter hat er sehr gelitten, sein Leben lang". Denn Christof hat immer wieder den Kontakt zum Vater gesucht. Erst vor ein paar Monaten hat er ihn angerufen. Da hieß es, er solle sich erst melden, wenn er sein Leben auf die Reihe gebracht hätte. So hat es Christof seiner Mutter erzählt, die das noch immer nicht fassen kann. "Was ist das für ein Vater, der so etwas von seinem Kind verlangt und ihm nicht einmal Hilfe anbietet?"

ER BÜXTE AUS DEM HEIM AUS ,UM DIE MUTTER ZU BESUCHEN

Helga hätte Christof gern geholfen, sein Leben auf die Reihe zu bekommen. Aber sie hat es nicht gekonnt. Sie hat mit ihrem eigenen Leben genug zu tun, und damit, es zumindest in der Spur zu halten. Drogen und Alkohol haben ihr Bemühen oft genug gestört. Sie hat ihre Kinder nie aufgegeben. Auch nicht, als schließlich Kai und Christof im Kinderhilfezentrum waren.

Sie haben sich oft gesehen, nicht nur zu den Besuchszeiten. Wenn Schwimmen auf dem Programm des Heims stand, büxte Christof aus und kam zu ihr. "Dann hat er die Badehose nass gemacht, damit es im Heim nicht auffiel", erinnert sich Helga mit einem Lächeln, das dem gewitzten kleinen Kerl von damals gilt.

Im Heim war vom Charme des kleinen Jungen nichts zu spüren. In der Gruppe für die "schwierigen Kinder" sei er nicht klargekommen, sagt Helga. "Er war für die Gruppe zu schwierig", sagt ihr Sohn Kai. Der hatte immer eine enge Verbindung zum großen Bruder. Auch als Christof, inzwischen ein Teenager, zu einer neuen Pflegefamilie kam. In Niedersachsen brachte ihn das Jugendamt auf einem Bauernhof unter, dessen Besitzer für die Betreuung nicht ganz pflegeleichter Jugendlicher ausgebildet ist.

Spargel und Heidelbeeren gab es dort und einen Trecker, dessen bloße Erwähnung alle zum Lachen bringt. "Der war sein größtes", sagt Helga. Lebhaft hat sie diesen einen Besuch auf dem Hof bei Lüchow vor Augen, als Christof ihr ganz stolz seine Künste mit dem Traktor vorführen wollte. Und den Trekker an die Fachwerkmauer fuhr.

"Christof war schon immer sehr impulsiv", sagt Uwe, ein Freund der Familie. "Der konnte in Nullkommanix drei Literflaschen Cola trinken und ist dann völlig ausgeflippt, war aufgedreht und wollte alles gleichzeitig tun. Und dann, wenn's vorbei war, kam das Gegenteil."

Was auf Unbeteiligte damals gewirkt haben mag wie teenie-typischer Übermut, wird nur wenige Jahre später zum unübersehbaren Muster in Christofs Leben werden. Die Hochs voller Lebensfreude, voller Wünsche und Ziele und dem Ehrgeiz, sie zu verwirklichen. Und die Tiefs, die immer tiefer werden. Und die immer wiederkehren.

In Düsseldorf hatten die Behörden das unruhige Kind auf eine Sonderschule geschickt. Im Wendland schaffte Christof wenigstens den Hauptschulabschluss. Dann kam er nach Hause zurück. Aber er kam nicht mehr wirklich an. "Er ist immer hin und her, zwischen Düsseldorf und dem Bauernhof", sagt die Mutter. Er träumte von einer Ausbildung, wollte eine Lehre machen, aber nirgends hielt er es lange aus. "Er war rastlos", erinnert sich Uwe, "ein Getriebener." Und niemand wusste, was ihn trieb.

Irgendwann hatte er keine Bleibe mehr. Bei den Armen Brüdern des Heiligen Franziskus kam er in einer Wohngruppe unter. "Ein feiner Kerl", sagt Ludwig, den alle Django nennen. Sie wohnten damals auf demselben Flur, und Christof hat nicht nur viel mit ihnen geredet, sondern auch tatkräftig mit angepackt, wenn Django Hausmeisterarbeiten erledigte. Monika, Djangos Frau, hat er die Einkaufstaschen getragen und ihr auch sonst geholfen, wenn ihre behinderte Hand ihr Schwierigkeiten machte. "Er war so liebenswert und höflich." Und wenn einer Monika verspottet hat, dann, sagt Django, "hat Christof sie beschützt".

Seine Kunden mochten den fiftyfifty-Verkäufer sehr

Doch Christof hat zwei Gesichter. Er ist der gut aussehende, fröhliche Sonnenschein, der lustige Filme liebt, romantische Musik hört und glücklich ist, wenn er mit seinem Fahrrad unterwegs sein kann. Und er ist der, der eifersüchtig auf alles und jeden ist und kaum Selbstvertrauen hat, der sich immer öfter volllaufen lässt und dann jegliche Kontrolle verliert. Wieder nüchtern, schämt er sich, bittet alle um Verzeihung, die unter ihm zu leiden hatten, und stürzt in ein tiefes Loch der Depression.

Einmal versucht er in einer solchen Phase, sich das Leben zu nehmen. Immer wieder verletzt er sich selbst. Diese Art der Autoaggression, das so genannte Ritzen, ist auch Anzeichen für eine klinische Depression. Ein paar Mal wird Christof in die Landeskliniken eingeliefert. Danach wirkt er auf Mutter und Bruder wieder ganz okay.

Weil das Geld knapp ist, geht er zu fiftyfifty. Auch seine Mutter verkauft das Obdachlosen-Magazin und hat ihm den Job empfohlen. Er wird so etwas wie der Star der Truppe. Steht er mal ein paar Tage nicht an seinem Platz vor Aldi an der Erkrather Straße, rufen die Kunden besorgt bei fiftyfifty an. Viele haben den charmanten jungen Mann mit der Zahnlücke ins Herz geschlossen. Manche bieten ihm Jobs an.

"Sein gutes Aussehen wurde ihm da manchmal zum Verhängnis", sagt Hubert Ostendorf, Geschäftsführer bei fiftyfifty. "Die Leute trauten ihm viel mehr zu, als er tatsächlich konnte." Und das führte immer wieder zu Misserfolg. In der Malerwerkstatt der Beschäftigungshilfe, die die Ordensgemeinschaft gegründet hat, um Menschen wie Christof an die Arbeitswelt heranzuführen, ist er richtig gut. Der Meister ist zufrieden. Und Christof träumt von einer Malerlehre.

Wenn das Geld knapp und die Sucht nach Alkohol groß ist, begeht er Diebstähle. Längst ist es nicht mehr bloß Cola, die ihn antreibt. Wenn er im Vollsuff mit irgendwem in Streit gerät, schlägt er zu. Ein Jugendrichter schickt ihn zum Anti-Aggressionstraining. Aber das nützt nichts, wenn er betrunken ist.

Irgendwann hat er so viele Strafen angehäuft, dass ihm Gefängnis droht. Ostendorf redet mit dem Staatsanwalt, die Strafen werden in eine vierstellige Zahl von Sozialstunden umgewandelt, die Christof bei fiftyfifty absolviert. Er tütet Briefe ein, macht Botengänge. Die Arbeit macht ihm Freude. Die Kollegen schätzen ihn. Nun will er Bürokaufmann werden. Aber seine Rechtschreibung ist miserabel, die ganze Schulbildung mangelhaft.

Aber er hat auch Erfolge. In der Galerie von fiftyfifty kommt ihm beim Vorbereiten der Ausstellungen sein handwerkliches Geschick zugute und alles, was ihm der Malermeister in der Ordensgemeinschaft beigebracht hat.

Lob saugt er auf wie ein Schwamm. Als er mit Ostendorf gemeinsam die einer Praktikantin renoviert, übernimmt er ganz selbstverständlich die Führungsrolle, zeigt dem Chef, was er wie machen soll. "Er hatte so viel Potenzial", erinnert sich Ostendorf, der wie Christof begeisterter Radfahrer ist. Als die Sozialstunden abgearbeitet sind, sucht Ostendorf bei seinem Fahrradmechaniker nach einer Perspektive für Christof.

Heinrich Zwiorek ist zuerst nicht sehr begeistert, als sein Stammkunde ihn um ein Praktikum für einen fiftyfifty-Verkäufer bittet. Ostendorf verbürgt sich für den jungen Mann. Und als er mit ihm im Laden steht, kann Zwiorek nicht glauben, dass das der Praktikant sein soll. "Der war so gepflegt, saubere Kleidung, adrette Frisur – da habe ich mich für mein Vorurteil geschämt."

Er träumt noch immer ehrgeizige Träume

Einen Monat sollte Christof bleiben, zwei sind es geworden, weil beide miteinander so zufrieden waren. Jeden Tag wartete Christof fünf Minuten vor der Zeit vorm Laden in Wersten. Nie kam er zu früh hinein, um Zwiorek nicht zu stören. Und wenn er eine Zigarette rauchen wollte, "hat er jedes Mal gefragt. Jedes Mal!" Dabei hatte Zwiorek längst gemerkt, dass sich der fleißige Praktikant vor keiner Arbeit drückte. "Ich habe gesagt, dass er mich nicht fragen muss. Aber er hat darauf bestanden", erinnert er sich noch heute kopfschüttelnd. Und daran, wie Christof ihm jede Arbeit zeigte, immer fragte "Hab ich das richtig gemacht?". Es war nicht bloß der Hunger nach Lob, der ihn fragen ließ. "Er hatte so wenig Selbstvertrauen."

Trotz bester Empfehlungen von Zwiorek scheitert Christofs Bewerbung um eine Lehrstelle als Fahrradmechaniker. Als er Zwiorek das nächste Mal im Laden besucht, trägt er Malerhosen und erzählt, er werde Anstreicher. Das ist nicht wahr. Christof ist wieder bei der Beschäftigungshilfe in der Ordensgemeinschaft gelandet. Und auch dort bleibt er nicht.

Er träumt noch immer ehrgeizige Träume. Und betäubt mit Jägermeister und Tabletten die Ahnung, dass es beim Träumen bleiben wird. Er trennt sich von seiner Freundin, sagt, er könne sich anderen Menschen nicht zumuten. Und er hört nicht hin, wenn ihm die, die ihn mögen, das Gegenteil versichern.

Am 16. Mai stürzt Christof wieder ab. Volltrunken randaliert er in seiner Wohnung, schlägt einen Freund nieder, verletzt sich selbst. Als Helga davon erfährt, will sie zu ihm. Ein Bekannter sagt ihr, dass Christof gerade ins Landeskrankenhaus gebracht werde. Helga ist erleichtert: "Dann kann ihm ja nichts passieren."

Um diese Zeit sitzt Christof angespannt mit fiftyfifty-Sozialarbeiterin Julia im Warteraum auf Station 13. Der Pförtner hat sie dorthin geschickt, als Julia nach der Aufnahme fragte. Christof fürchtet, dass er abgewiesen werden könnte. Ängstlich hat er Julia seinen frisch verbundenen Unterarm gezeigt und gesagt: "Dann passiert das noch mal." Als die Mittagspause in Station 13 vorbei ist, sagt ein Pfleger, sie seien da ohnehin falsch, müssten in Haus 2. Christof verliert die Nerven und rennt davon. Julia macht sich große Sorgen. Klinikmitarbeiter raten ihr, die Polizei zu rufen. Zusammen mit den Beamten findet sie Christof: Er hat sich mit dem Verband von seinem Arm am Klinikzaun erhängt.

"Für die, die dich kannten, warst du keine Zumutung, sondern ein Glück", sagt Hubert Ostendorf in seiner Trauerrede. "Christof, lebe wohl." Helga hat ein Lied aus Christofs CD-Sammlung ausgesucht. Es ist von "Ich & Ich" und könnte doch von ihm sein. "Ich bin nicht der, der ich sein will und will nicht sein, wer ich bin. Mein Leben ist ein Chaos, schau mal genauer hin."

Fiftyfifty und Helga haben Strafanzeige wegen unterlassener Hilfeleistung erstattet. Die Klinikleitung bestreitet Fehler bei der misslungenen Aufnahme. Jetzt soll die Staatsanwaltschaft klären, wer die Schuld an Christofs Tod trägt. Das wird Christof nicht zurückbringen, sagt Helga. "Aber wenn künftig sichergestellt ist, dass so etwas nicht wieder passiert – dann wäre sein Tod nicht ganz so sinnlos gewesen."

von Stefani Geilhausen