Memento mori in der Straßenbahn
Sie sind zum Massenphänomen geworden und Dokument der „hipness“ vor allem junger Menschen: Tätowierungen. Der Anteil der Tätowierten an der deutschen Bevölkerung zwischen 25 und 34 Jahren beträgt aktuell rund 30 Prozent. Kreuze, Engel, durchstochene Herzen, Drachen, Feen, Schmetterlinge, Pottwale und Slogans mit Rechtschreibfehlern auf nackter Haut, bevorzugt auf Armen, Beinen, Händen, dem Hals, im Gesicht, aber auch an intimeren Stellen. Dem ausladenden Ornament am unteren Ende des Rückens, verdanken wir die schöne Wortfindung „Arschgeweih“.
Neulich, in der Straßenbahn, hatte ich mich in die Lektüre eines Buches vertieft, auch deshalb, um dem Smartphone-Geplapper und -Gedudel um mich herum zu entgehen. Als ich nach einer Weile aufblickte - sah mich ein Totenkopf an! Nach kurzem Schrecken – klopft Freund Hein etwa schon an meine Tür? - wurde mir klar, dass ich auf ein Tattoo schaute, großflächig auf der mir zugewandten Gesichtshälfte eines jungen Mannes aufgebracht. Der setzte jetzt ein breites Grinsen auf, mit der Folge, dass sich das Tattoo so verzog, dass mir der Totenkopf auch noch neckisch zuzublinzeln schien. Der spöttisch grinsende junge Mann wartete offensichtlich auf einen Kommentar meinerseits. Mir viel allerdings nichts dazu ein, schließlich ist jeder frei, seinen Körper so zu gestalten, wie es ihm gefällt, und sei es auch zum wandelnden memento mori.
Nachdem ich aus der Straßenbahn ausgestiegen war, fiel mir die erste Strophe aus dem Lied Täglich zu singen aus der Feder von Matthias Claudius ein, die ich dem jungen Mann gerne vortragen hätte. Ich vermute allerdings, dass sein Befremden darüber nicht geringer gewesen wäre als meines über sein Tattoo:
Ich danke Gott, und freue mich
Wie's Kind zur Weihnachtsgabe,
Daß ich bin, bin! Und daß ich dich,
Schön menschlich Antlitz! habe;
von Hans Peter Heinrich