Wunder geschehen
Aus einer Marktbude winkt mir ein Mann zu und lächelt mich an. Ein strahlendes Lächeln, alle Zähne im Mund – das war nicht immer so. Er hat eine weiße Schürze um und stolz überreicht er mir eine Bratwurst. Wir kennen uns viele Jahre. Noch vor einem Jahr rannte er über den Marktplatz wie ein gehetztes Tier. Zwei Flaschen harten Alkohol am Tag hat er getrunken und dazu noch andere Drogen konsumiert. Immer brauchte er Geld. Damals hätte in unserem Sozialarbeiterteam niemand auch nur einen Euro darauf gewettet, dass er es einmal schaffen könnte. Hier, heute auf dem Weochenmarkt kennt niemand seine Geschichte, deshalb nenne ich ihn Antonio und nicht mit seinem richtigen Namen. Da stehe ich zwischen all den Buden, den „normalen“ Menschen, die Kaffee trinken und knabbere an meiner Bratwurst. Die Melodie von „Wunder geschehen“ kommt mir in den Kopf, dieser etwas kitschige Song von Nena. Und irgendwie ist es auch ein Wunder.
Rückschau. „Drei Jahre und 9 Monate. Wenn du aus dem Knast kommst, gehe ich in fast Rente. Ich wünsche dir viel Spaß“, blaffe ich Antonio an. „Und nur, weil du deinen Hintern nicht hochbekommst. Du Idiot.“ Ich lächele ihn höhnisch an. Er sitzt vor mir auf dem monatlichen Verkäufertreffen des Straßenmagazins fiftyfifty und schaut mich aus einer Mischung von Verachtung und Entsetzen an. Er weiß, dass ich recht habe. Ich denke, gleich rastet er wieder aus. Wie schon vorher ein paar Mal in unser Beratungsstelle. Wie das HB-Männchen, eine bekannte Werbefigur für eine Zigarettenmarke. Die Zeichentrickfigur geriet in den Spots meiner Kindheit in Wutanfälle und ging daraufhin in die Luft. Das letzte Mal habe ich Antonio auf der Straße vor unsere Beratungsstelle eingepackt, also ganz fest in den Arm genommen, er wollte gerade Jemandem eine reinhauen. So standen wir da, mehrere Minuten, bis Antonio sich beruhigt hatte. Später hat er mir gesagt, dass es genau dieser Spruch auf dem Treffen war, gesagt auf meine provozierende Art, der ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist.
Antonio steht bei mir in der Beratungsstelle. Er ist verzweifelt. Vor mehreren Wochen hat er über das Projekt „Housing First“ eine Wohnung bekommen. Eigentlich müsste jetzt alles besser werden. Er hält es aber nachts nicht aus in der Wohnung. Er habe die ganzen letzten Wochen auf einer Isomatte im Schlafsack eingekuschelt auf dem Balkon geschlafen, berichtet er mir verzweifelt. Er hat Angst, dass er es nicht schafft mit der Wohnung. Ich sage ihm, er solle sich Zeit lassen, nach all den Jahren auf der Straße ginge es Vielen so.
Wir stehen vor der Tür der Anwaltskanzlei. Antonio schwitzt, es grenzt an ein Wunder, dass er überhaupt gekommen ist. Er kann schlecht gehen, ich denke, der schafft es selbst mit einem Aufzug nicht in die dritte Etage. Er braucht Alkohol. Im Kiosk gegenüber beginnen wir zu diskutieren. Er meint, dass ich ihm zwei kleine Flaschen Wodka kaufen soll, ich meine, eine reicht. Vor der Tür trinkt er die erste fast direkt aus, die andere füllt er in eine Wasserflasche, an der er während des Gesprächs mit der Anwältin die ganze Zeit nuckeln wird.
Die Anwältin meint ironisch, alleine den Strafregisterauszug von Antonio bei der Gerichtsverhandlung vorzulesen, würde bei Gericht eine dreiviertel Stunde dauern, so viele Einträge hätte er. Da muss selbst Antonio leicht schmunzeln. In den letzten zwanzig Jahren war er zig mal in Haft, Diebstähle, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Mehrere Entzugstherapien von Alkohol und Drogen hat er gemacht und trotzdem ist er immer wieder rückfällig geworden, immer wieder auf der Straße gelandet. Und während wir mit der Anwältin über Haftstrafen und Therapien reden, bricht es auf einmal aus ihm heraus. Er erzählt von seiner Kindheit, dem Grauen, dem Schatten, der ihn seitdem verfolgt, den er nur aushält, wenn er sich betäubt. Bei der Gerichtsverhandlung bekommt er eine Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Sollte er nochmal straffällig werden, muss er mehrere Jahre ins Gefängnis. Eine Psychotherapie zu machen ist diesmal seine Bewährungsauflage.
Drei Monate später: Antonio steht bei fiftyfifty vor der Tür. Ich habe ihn die ganze Zeit nicht mehr gesehen. Er darf zum ersten Mal aus der Therapie ein Wochenende zu Hause, in seiner Wohnung, verbringen. Ein bisschen mulmig ist ihm zumute, Angst vor einem Rückfall, Angst Leute zu treffen, die auf Drogen sind. Und trotzdem steht vor mir ein anderer, ein neuer Mensch. Die hässliche Fratze des Drogenkonsums ist nicht mehr da. Antonio wirkt aufgeräumt und ja selbstsicher. Das nächste Mal, komme ich mit neuen Zähnen, sagt er zu mir, dann kann man gar nicht mehr erkennen, wer ich früher mal war.
Mit dem Geld, das Antonio bei seiner Arbeit auf dem Markt verdient, möchte er sich mit seiner Freundin, mit der er seit zwei Monaten zusammen lebt, eine neue Sitzecke kaufen. Sein Chef hat ihm ein Angebot gemacht, er könne in dessen Restaurant arbeiten. „Wenn das klappt, fahren wir im Sommer einmal in den Urlaub, ich habe noch nie Urlaub gemacht. Zehn Tage wären toll“, sagt er zu mir. Dann lächelt er mich an und geht zurück in die Marktbude, Würstchen für die nächsten Kunden grillen. Auf dem weiteren Weg über den Markt schwirrt mir wieder diese Melodie von Nena im Kopf herum: Wunder geschehen.
Oliver Ongaro