Zur aktuellen Bürgergeld-Debatte: Ein Faktencheck
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) behauptete jüngst im ARD-Sommerinterview, das Jobcenter zahle für Bürgergeld-Empfänger bis zu 20 Euro Miete pro Quadratmeter. „Das sind bei 100 Quadratmetern schon 2.000 Euro im Monat”, rechnete er vor. Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) zögert nicht, von organisiertem Sozialleistungsbetrug und „mafiösen Strukturen“ im Bürgergeldbezug zu sprechen. Zwei von zahlreichen Stimmen aus Politik und Medien, die das Misstrauen gegen Bürgergeldbezieher*innen systematisch schüren. Eine aktuelle Studie macht sichtbar, was Alltag mit Bürgergeld wirklich bedeutet.
5,5 Millionen Menschen beziehen derzeit Bürgergeld; ein Drittel davon Kinder und Jugendliche, viele Kranke, Pflegende, Erziehende sowie 800.000 Aufstocker, die am finanziellen Limit in Armut leben. Zwei Jahre nach Einführung des Bürgergeldes hat der gemeinnützige Verein Sanktionsfrei, der sich für eine menschenwürdige Grundsicherung einsetzt, eine Umfrage in Auftrag gegeben, die Bürgergeldbeziehende selbst zu Wort kommen und ihre Lebensumstände sichtbar werden lässt (einsehbar unter sanktionsfrei.de). Im April 2025 hat das Umfrageinstitut Verian zu diesem Zweck 1.014 Betroffene zwischen 18 und 67 Jahren zu drei Themenbereichen befragt: zu ihrem Auskommen mit dem Regelsatz, ihrer Arbeitssuche und den Kontakt zum Jobcenter sowie ihre Beziehung zur Gesellschaft. Die im Juni 2025 vorgelegten Ergebnisse der Studie machen deutlich, was es heißt, vom Bürgergeld leben zu müssen und zeichnen ein Bild von materiellem Verzicht, psychischer Belastung, Ausgrenzung und Hürden bei der Arbeitssuche. Sanktionsfrei meint: „Die Änderungen vom Bürgergeld zu Hartz IV sind leider nur marginal (…). Es wird weiterhin sanktioniert, der Regelbedarf ist auch mit Bürgergeld viel zu niedrig, Wohn- & Energiekosten sind nur teilweise gedeckt, Fehler und behördliche Willkür passieren in den Jobcentern weiterhin.“
72 % der Bürgergeldbeziehenden können laut der Umfrage ihre Grundbedürfnisse mit dem Regelsatz von monatlich 563 Euro kaum decken. Nur jede*r zweite Befragte hat nach eigener Auskunft genug auf dem Konto, damit alle im Haushalt stets satt werden. Ein Drittel spart am Essen, um andere Bedürfnisse erfüllen zu können. 54 % der Eltern verzichten nach eigenen Angaben zugunsten ihrer Kinder auf Essen. Sonderausgaben wie eine Stromnachzahlung oder eine kaputte Waschmaschine stellen substantielle Einschnitte dar. Ein knappes Drittel muss sich verschulden, um den Alltag bewältigen zu können, und 77 % empfinden ihre finanzielle Lage als psychisch belastend. Konsens herrscht darüber, dass der aktuelle Bürgergeld-Regelsatz nicht ausreicht, um ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Allein schon die Inflation macht eine Neuberechnung dringend erforderlich. Verlierer im Wettlauf mit der Inflation sind, wen wundert´s: Bürgergeld-Bedürftige. Die Sozialaktivistin und Mitgründerin von Sanktionsfrei e. V. in Berlin, Helene Steinhaus, kommentiert dazu: „Ein Sozialstaat, der Eltern zu der Frage zwingt, ob sie oder ihre Kinder satt werden sollen, ist kein Schutzraum. Das zeigt auch deutlich, dass die Diskussion, ob der Regelsatz zu stark erhöht wurde, völlig realitätsfern ist“ (der Freitag, 26.06.2025).
Im Rahmen des zweiten Themenfeldes der Befragung – Arbeitssuche und Kontakt mit dem Jobcenter – gab die überwältigende Mehrheit (75%) der Befragten an, arbeiten zu wollen, um vom Bürgergeld unabhängig zu werden. Jedoch sind nur wenige (26%) zuversichtlich, auch eine existenzsichernde Arbeit finden zu können. Die Mehrheit der Befragten gibt an, mit gesundheitlichen Problemen behaftet zu sein, die für sie eine kaum zu überwindende Hürde bei der Arbeitssuche darstellen - 59 % mit körperlichen Einschränkungen, 57 % mit psychischen Erkrankungen. Jobcenter werden bei der Arbeitssuche nur als bedingt hilfreich wahrgenommen. Auch strukturelle Hürden wie regionale und Qualifizierungs-Mismatches werden häufig genannt. Deutlich wird, dass viele Leistungsbeziehende sich bessere Unterstützung bei der Beseitigung ihrer Vermittlungshemmnisse wünschen, und sofern dies nicht möglich ist, auch Arbeitsstellen, die mit diesen Hemmnissen vereinbar sind. In der Kurzfassung der Studie von Gesine Holtmann heißt es dazu: „Die geringe Hoffnung auf bedarfsdeckende Arbeit lässt aufhorchen. Statt den Fokus stets auf mangelnde Arbeitsbereitschaft zu richten, stellt sich die Frage, inwiefern es für Personen im Bürgergeld tatsächlich ausreichend bedarfsdeckende Stellen gibt; wie realistisch es für die meisten Bürgergeldbeziehenden ist, den Leistungsbezug verlassen zu können; und welche Art der Unterstützung sie dabei bräuchten.“ Der Präsident des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, warnte vor diesem Hintergrund der Ergebnisse vor einer Politik des Kürzens und Einsparens beim Bürgergeld. Es verlören nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Wirtschaft, denn selbst bei den wenig Qualifizierten fehlten Arbeitskräfte. Besser wäre mehr Förderung, sagte Fratzscher.
Befragt nach ihrer Beziehung zur Gesellschaft, wird deutlich, dass für viele Betroffene das Bürgergeld nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein emotionales Desaster ist. Scham, Angst und soziale Isolation prägen ihren Alltag. Nur 12 % fühlen sich zur Gesellschaft zugehörig. 42 % schämen sich, Bürgergeld zu beziehen, Dabei weist eine große Mehrheit (82%) darauf hin, dass vielen Menschen nicht klar sei, wie schnell sie selbst ins Bürgergeld rutschen können. „Wir sind alle eine Scheidung, einen Unfall, eine Krankheit, eine Arbeitslosigkeit vom Bürgergeld entfernt. Das sollten wir uns immer vor Augen halten“, so ein Betroffener. Die Mehrheit der Befragten (72 %) treibt dann auch die Angst vor weiteren Verschärfungen im Bürgergeld um. Insbesondere die mögliche Wiedereinführung eines von immer mehr Politikern geforderten vollständigen Leistungsentzugs wird von den Befragten als akut existenzgefährdend gefürchtet. Der CDU-Landrat Götz Ulrich aus Sachsen-Anhalt etwa, um nur eine von vielen ähnlichen Stimmen zu nennen, will für Jobverweigerer alle Leistungen komplett streichen, sogar die Miete – und das für immer. In der Bild-Zeitung posaunte er kürzlich: “Wer aber erwerbsfähig ist und ohne wichtigen Grund keine Arbeit annimmt, sollte künftig gar keinen Anspruch auf Grundsicherung haben.“ Das würde für Zehn- oder Hunderttausende Menschen den direkten Weg in die Obdachlosigkeit und ein Leben auf der Straße bedeuten – mit entsprechenden Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft.
Was tun, um Menschen, die auf Bürgergeld angewiesen sind, ein einigermaßen würdevolles Leben zu ermöglichen? Sanktionsfrei e. V. fordert, „die Bedürfnisse der Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen und die geplanten Verschärfungen zu stoppen. Außerdem einen sanktionsfreien Regelsatz von 813 €, Qualifizierung und Weiterbildung statt Vermittlungsvorrang und keine Totalsanktionen.“ Woher das Geld dafür kommen soll, dafür unterbreitet Sanktionsfrei folgenden Vorschlag: „Die tatsächlichen Einsparpotenziale, liegen, wie die Daten zeigen, nicht bei Bürgergeldbeziehenden, sondern zum Beispiel bei Finanzbetrug, Vermögen- und Erbschaftssteuer und fossilen Subventionen. Das Armen-Bashing muss ein Ende haben.“
Von Hans Peter Heinrich