Zerbrechlich
Hoch oben im Nationalpark im Nordosten von Kambodscha gleiten die Wolken wie Nebel um den kleinen Tempel. Neben der Statur von Buddha sehe ich eine Inschrift auf der steht: „Der Mensch leidet, weil er Dinge zu besitzen und zu behalten begehrt, die ihrer Natur nach vergänglich sind.“
Per email kommt eine Nachricht an meinen Urlaubsort. Gerd ist tot. Gerd, 59 Jahre alt, hat sich tot gesoffen. Irgendwo in einem Krankenhaus hat es ihn erwischt. Multiples Organversagen heißt es im medizinischen Deutsch. Ich bin traurig. Wenn es einen lieben Menschen gab, dann war es Gerd. Irgendwas Zerbrechliches schwang immer mit in seiner Stimme. „Ich hab gelebt, Olli“, hat er mal zu mir gesagt, „wenn es vorbei ist, dann ist es so, ich hatte meine Zeit und es war nicht alles schlecht.“ Gerd war als junger Mann lange in Thailand und in anderen Ländern in Asien unterwegs. Er hat immer gerne davon erzählt, mit leuchtenden Augen.
Später, zurück in Deutschland. Kerstin sitzt auf einer Mauer am Oberbilker Markt. Ich frage nur, ob sie das mit Gerd gehört hätte und sie fängt sofort an zu weinen. Er sei letzten Montag gestorben, sage ich dann noch, bevor sie ihren Rucksack nimmt und heulend wegläuft. Vor einem Geschäft finden wir sie wieder, auf dem Boden gekauert. Sie kann es nicht fassen. Jahrelang war sie seine Freundin, seine wichtigste Bezugsperson. Es war wohl nicht immer einfach für sie - mit seinen zerstörerischen Alkoholexzessen. Also es ging nicht immer mit ihm, aber niemals ohne ihn. Da kauert sie auf dem Boden und die Welt um sie herum verschwindet langsam. Über Minuten sitzen wir da zusammen, schweigsam, ich habe meine Hand auf ihren Unterarm gelegt.
Es ist Dienstagmorgen an der Kapelle am Südfriedhof. Vor uns aufgebahrt steht eine kleine Urne. „Und auch Angie war ein Geschöpf Gottes“, höre ich die Stimme des katholischen Geistlichen. Vor mir sitzt Nico im Rollstuhl, die Verbände um seine Beine schimmern blau-gelblich von Blut und Eiter. Die aufgedunsenen Füße quellen darunter hervor. Tränen laufen ihm über das Gesicht. Es ist ein richtig heißer Tag im Hochsommer. Nico und ich sind die einzigen Trauergäste. Ich erinnere mich an die vielen Briefe von Angie aus der Haft: „Bitte bestell Nico ganz liebe Grüße, ich vermisse ihn so.“ Oder umgekehrt Nicos Anrufe aus der Justizvollzugsanstalt: „Bitte sag Angie Bescheid, ich muss nur noch drei Monate absitzen.“ Über viele Jahre immer wieder von der Straße in den Knast und von dort zurück auf die Straße. Drogenrückfälle, Trennungen. In der letzten Zeit wohnten Angie und Nico zusammen in einem kleinen Apartment. Dort hat Nico sie gefunden, als er von seiner Methadonausgabe beim Arzt zurück in die gemeinsame Wohnung gekommen ist. Sie lag einfach da.
Langsam bewegen wir uns hinter dem Friedhofswagen her zum Grab. Meine Kollegin Lisa hat Nico aus dem Krankenhaus abgeholt. Der Oberarzt sagt, es sei eine Entlassung auf eigenen Wunsch. Dass Nico unbedingt zur Beerdigung seiner langjährige Freundin möchte und dann aber sofort zurück ins Krankenhaus kommen will, interessiert ihn nicht. Dann müsse er danach wieder in die Notaufnahme und man werde schauen, ob es dann noch Platz in einem Zimmer gäbe, so der Oberarzt. Nico wirft ein paar Rosen in das offene Grab. Sonnenstrahlen funkeln durch die Äste der Bäume. Lisa hockt sich neben den Rollstuhl und hält seinen Arm.
Szenenwechsel: Uwe ist am Morgen in seinem Schlafsack am Carlsplatz aufgewacht und seine Frau liegt neben ihm. Sie atmet nicht mehr. Er kann es nicht fassen. Jahrelang waren sie zusammen auf der Straße.
Am Mintropplatz sieht Mini mich. An der Jacke baumelt ihr fiftyfifty-Ausweis. Die Tränen laufen ihr über die Wangen bevor sie mich erreicht hat. Gefühlt Stunden stehen wir mitten auf dem Platz. Ihr Freund, ihre Liebe, Björn, er ist tot. Sie ist sich nicht sicher, ob es eine Überdosis Heroin war. Er wurde nur etwas über 30 Jahre alt. Ich halte sie im Arm, sprachlos. Vier Tage später ist Mini auch tot. Lungenentzündung, der von Drogen geschwächte Körper hat es nicht mehr geschafft. Ich suche eine Hand, zwei Arme, die mich festhalten.
Nach dem Ausflug im Nationalpark in Kambodscha lese ich Essays von Ferdinand von Schirach. An einem Satz bleibe ich hängen: „Wir sind endlich, zerbrechlich und verletzbar, und auch wenn wir es manchmal glauben, sind wir nie in der Lage, unser Leben ganz zu begreifen.“
Oliver Ongaro, fiftyfifty-Streetworker