Aus den Augen - Industrialisierte Nutztierhaltung. Beispiel Schweiz
Wann haben Sie zuletzt ein Mastschwein gesehen? Auf diese Frage antwortete vor zwei Jahren im Kanton Luzern mehr als die Hälfte der Befragten mit: noch nie. Dabei leben dort 430 000 Schweine, das sind mehr als der Kanton Einwohner*innen hat. Insgesamt werden in der Schweiz jedes Jahr 83 Millionen "Nutztiere" allein für den menschlichen Verzehr gezüchtet, gemästet und geschlachtet, Fische nicht einberechnet – von ihnen ist nur in Tonnen die Rede. Eine schier unvorstellbare Zahl. Dass wir die meisten dieser Tiere nicht zu Gesicht bekommen, hat auch mit der industrialisierten Nutztierhaltung zu tun, um die es im Folgenden geht. Der kapitalistischen Verwertungslogik folgend, werden auf einer möglichst kleinen Fläche möglichst viele Tiere gehalten, die in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Fleisch ansetzen, Milch geben oder Eier legen. Diese Intensivhaltung – auch Massentierhaltung genannt – findet abgelegen und versteckt in speziell ausgerüsteten Stallungen, Hallen oder Betonbuchten statt. Seit Jahrzehnten gibt es immer weniger Bäuer*innen, dafür immer mehr Tiere: 18 000 Hühner in einer einzigen Halle, 10 Schweine auf der Größe eines Auto-Stellplatzes, zeitlebens ohne Stroh und ohne Auslauf – das ist auch in der Schweiz inzwischen nicht mehr die Ausnahme, sondern die Norm.
Dabei leben nicht alle Tiere gleichermaßen hinter Mauern. Hunde oder Katzen – von letzteren gibt es in der Schweiz 1,85 Millionen. Dass ein Hund sichtbar ist, ein Schwein dagegen kaum, hat mit den Tieren selbst nicht viel zu tun. Kein Tier kommt als Mastschwein, Milchkuh, Legehenne oder Schoßhund zur Welt. Das sind Kategorien, die wir uns zurechtlegen, und zwar je nach dem Zweck, den wir für diese Tiere vorgesehen haben. Wie willkürlich solche Einteilungen sind, zeigt das Kaninchen: Je nachdem ist es für uns Kuscheltier, Masttier, Zirkustier oder Versuchstier. Und doch prägen diese Kategorisierungen nachhaltig unser Verhältnis zu den Tieren, auf gesellschaftlicher, politischer und auch gesetzlicher Ebene. Wer beispielsweise seinen Hund über längere Zeit angekettet in eine dunkle Box sperrt, muss mit Strafen oder Sanktionen rechnen. Wer dasselbe mit Kühen oder Schweinen tut, macht sich nicht strafbar, im Gegenteil: Ein solcher Umgang mit Nutztieren wird von weiten Teilen der Gesellschaft stillschweigend akzeptiert, ist durch das Tierschutzgesetz legitimiert und darüber hinaus staatlich subventioniert.
Hunde tragen Namen, Schweine tragen Nummern
Die "Verwandlung" von Tieren in Nahrungsmittel ist eine gängige Praxis, um sie unsichtbar zu machen. Nachdem Rinder oder Schweine geschlachtet wurden, werden sie ausgenommen, zerstückelt und steril verpackt zu einem Stück Fleisch. Und wir benennen sie um. Aus einem Rind (oder was von ihm übrigbleibt) wird ein Hamburger und aus einem Huhn ein Poulet. Auf diese Weise werden sie als Nahrungsmittel und nicht mehr als Tiere wahrgenommen. Dazu passt, dass wir namentlich Nutztiere als anonyme Masse behandeln, als austauschbare Objekte mit Nummern: ein Mastschwein für ein beliebig anderes. Andere Tiere betrachten wir als Subjekte, wir geben ihnen Namen (Lana, der Hund, ist Lana und nicht Rina), feiern ihre Geburtstage und bestatten sie. Wir schreiben insbesondere Nutztieren nach wie vor Eigenschaften zu, die üblicherweise für Dinge gelten. In der industriellen Nutztierhaltung werden zum Beispiel Kühe ausschließlich als Mittel zu einem bestimmten Zweck betrachtet, nämlich als Milchlieferantinnen. Der Wert einer Milchkuh bemisst sich allein an der Menge Milch, die sie produziert; nimmt diese ab, verliert die Kuh an Wert, sie wird aussortiert und geschlachtet. Das trifft auf Nutztiere allgemein zu. Sie gelten als Produktionsressourcen. Mit möglichst wenig Input (z.B. Futter) sollen sie möglichst viel Output (z.B. Milch, Fleisch, Eier) generieren. Auch werden Nutztiere, wie andere Dinge oder Maschinen, wenn nötig den Produktionsbedingungen angepasst: Weil sich Hühner auf engem Raum gegenseitig verletzen, was natürlich deren Produktivität verschlechtert, lötet man ihnen die Schnabelspitze weg; damit Kühe möglichst viel Milch für uns Menschen produzieren, werden sie jedes Jahr geschwängert und man nimmt ihnen die Kälber weg; oder man kupiert Schweinen die Schwänze, weil sie in beengten Buchten zu Kannibalismus neigen. Dass besonders jene Tiere, die unsichtbar sind, wie Objekte behandelt werden, bedeutet nicht zwingend, dass man mit ihnen tun und lassen kann, was man will. In der Schweiz ist der Tierschutz in der Verfassung verankert, ja sogar die Würde des Tieres wird geschützt – kein anderes Land geht rechtlich so weit. Es ist verboten, Tieren "ungerechtfertigt Schmerzen, Leiden oder Schaden" zuzufügen, und wer mit Tieren umgeht, hat für deren Wohlergehen zu sorgen – allerdings nur, und das ist der entscheidende Zusatz, "soweit es der Verwendungszweck zulässt".
Die Würde der Tiere ist antastbar
Bei Nutztieren besteht dieser Verwendungszweck darin, dass sie Nahrungsmittel für den Menschen sind. Weil dies bisher nicht grundlegend hinterfragt wird, sind viele Praktiken im industriellen Umgang mit Nutztieren vom Gesetz her erlaubt – und das, obschon sie nachweislich das Tierwohl beeinträchtigen. Ein Leben in beengten Verhältnissen gehört dazu, ebenso die bereits erwähnten Verletzungen, das Unterbinden von Beziehungen, aber auch die Tatsache, dass die meisten dieser Tiere nur einen Bruchteil ihrer Lebenserwartung erreichen und geschlachtet werden, noch bevor sie erwachsen sind. So kann ein Rind bis 25 Jahre alt werden; als Milchkuh hat es aber bereits nach vier bis sechs Jahren ausgedient, als Mastrind wird es nach 20 Monaten geschlachtet, als Kalb schon nach fünf. Und obschon ein Huhn bis zu acht Jahre alt werden kann, kommt es als Legehenne nur auf eineinhalb Jahre und als Masthuhn gerade mal auf sechs Wochen. All das fällt, wie gesagt, nicht etwa unter Tierquälerei, sondern ist mit dem schweizerischen Tierschutzgesetz vereinbar und angeblich auch mit der Würde des Tieres. Aber wenn das Gesetz vorschreibt, dass das Tierwohl nur verletzt werden darf, wenn es wirklich nötig ist, es keine Alternativen gibt – sollte man dann nicht fragen, ob die Menschen in einem Wohlstandsland wie der Schweiz tatsächlich auf tierliche Nahrungsmittel angewiesen sind oder ob wir uns nicht auch anders, pflanzenbasiert, gesund und ausgewogen ernähren könnten? Haben wir ein Recht darauf, Tiere zu essen? Das Essen von Tieren ist trotz Alternativen gesellschaftlich immer noch weithin anerkannt, es ist normal. Hinter dieser Normalität steht auch das Selbstverständnis des Menschen, über den Tieren zu stehen. Obschon die Evolutionsbiologie Gegenteiliges nahelegt, ist die Überzeugung nach wie vor verbreitet, dass wir Menschen etwas besitzen, das die anderen Tiere nicht einmal im Ansatz haben, – wie Intelligenz, Selbstbewusstsein oder Moral – und dieses Etwas uns berechtigt, uns Tiere "untertan zu machen". Und dass wir Tiere als unser Eigentum betrachten; sie gehören nicht sich selber, sie gehören uns. Obschon dies nicht bloß für Schweine, Kühe oder Hühner gilt, sondern auch für Hunde, Katzen und Meerschweinchen – auch sie sind Besitztum, das erworben, verkauft oder verschenkt werden darf –, sind es erneut die Nutztiere, die weniger zählen. Was nicht verwunderlich ist, wo wir sie ja nie zu Augen bekommen. Ob sich in unserem Verhältnis zu ihnen etwas ändern würde, wenn – wie der Ex-Beatle Paul McCartney vorschlägt – Tierfabriken und Schlachthäuser gläserne Wände hätten, bleibt eine offene Frage.
Von Klaus Petrus. Nachdruck (gekürzt) mit freundlicher Genehmigung vom Surprise (Basel)/ INSP, Fotos: Klaus Petrus