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Ob wohl Stefan gemeint ist, wenn über die Sicherheit im Bahnhofsumfeld gesprochen wird, über seine Sicherheit? (Foto: Wikipedia)

Nur ein Mensch

Ein Mensch (wissenschaftlich: Homo sapiens) ist ein Säugetier aus der Ordnung der Primaten. Er ist bekannt für seine Fähigkeit zur Sprache, zum abstrakten Denken, zur Kultur und zur Selbstreflexion, steht bei Google.

Stefan sitzt auf dem Boden im Hauseingang eines leeren Ladenlokals. Neben ihm steht ein Rollstuhl, an dem sein fiftyfifty-Verkaufsausweis hängt. Die Beine hat er mit einer schwarzen schmuddeligen Decke zugedeckt. Er hat eine Wollmütze auf, unter der seine fettigen Haare herausschauen. Einige dicke, schwarze Fliegen summen um ihn herum. Als ich vor ihm in die Hocke gehe, kommt der Geruch von Urin und Fäkalien wie eine Wand auf mich zu. Stefan kommt aus Rumänien und spricht nur wenig deutsch. Meine Kollegin Lisa und ich sprechen langsam  mit ihm und benutzen die Hände, um Dinge zu fragen. Stefan erklärt uns in gebrochenem Deutsch, dass er nicht laufen könne und deshalb seit zehn Tagen hier sitzen würde. Ich bitte ihn, die Decke beiseite zu nehmen, was er bereitwillig tut. Dann sehe ich seine nasse, urindurchtränkte Hose. Lisa und ich schauen uns an. Sie spricht es zuerst aus, was wir beide denken, Stefan sitzt hier wohl seit Tagen in seiner eigenen „Scheiße“. Hier in einem Hauseingang am Worringer Platz; viele hundert Menschen gehen jeden Tag hier vorbei. Ob wohl Stefan gemeint ist, wenn über die Sicherheit im Bahnhofsumfeld gesprochen wird, über seine Sicherheit? Wir bitten ihn, auch den Ärmel seiner Jacke hochzukrempeln und sehen blutige aufgekratzte Hautstellen. Immer wieder zeigt er auf seine Beine und sagt: „Nicht gut, nicht kann laufen.“ Oft habe ich erlebt, dass obdachlose Menschen ihre Verletzungen nicht zeigen möchten, zu schambehaftet sind die offenen Beine, Fußpilz in einem krassen Verlauf oder Kleider- und Körperläuse. Häufiger habe ich dann Deals gemacht, z.B. eine Flasche Alkohol gegen einmal das Bein anschauen, das hat eigentlich immer geklappt. Bei Stefan ist es anders, er zeigt uns alles, er möchte, dass im geholfen wird.

Wir rufen Ronny von Care 24 an, er ist Krankenpfleger und versorgt obdachlose Menschen auf der Straße. Wir haben Glück, denn er ist in der Nähe und kann schnell vorbei kommen. Kleider- und Körperläuse ist Ronnys Diagnose und er bietet an, ihn in eine nahegelegene Notschlafstelle zu fahren und dort zu versorgen, also duschen, neue Kleidung und ein Bett für die Nacht.

Eine Woche später stehen Lisa und ich wieder am Worringer Platz. Stefan liegt wieder vor uns in dem selben Hauseingang. Er sagt, am ersten Morgen wäre ein Secruity-Mann gekommen und hätte gebrüllt: Weg weg. Dann sei er wieder in seinen Rollstuhl geklettert und mühsam hier zu diesem Hauseingang gefahren. Ich telefoniere mit der zuständigen städtische Stelle. Stefan kann erneut in die Notschlafstelle kommen, aber erst am nächsten Tag, dann darf er aber auch tagsüber bleiben. Am nächsten Tag kommen Lisa und ich mit unserem VW-Bus. Stefans Hose ist wieder urindurchtränkt und es riecht unerträglich. Ich versuche ihn mit viel Gezerre aus dem Rollstuhl in den VW-Bus zu hieven. Dabei habe ich vergessen Handschuhe anzuziehen, sodass meine Hände nass vom Urin sind. Ich zögere oft, Handschuhe anzuziehen, außer die Person ist wirklich verletzt. Irgendwie denke ich, es hat etwas Entwürdigendes, Menschen mit Gummihandschuhen anzufassen, als wären es Aussätzige. In der Notschlafstelle bekommt Stefan einen Platz in einem Drei-Bett-Zimmer zu gewiesen. Sein Bett ist frisch bezogen, sonst sieht es allerdings schlimm aus in dem Raum. Kleidungstücke und Müll liegen verteilt im Zimmer herum, die wenigen Regale sind zertrümmert. Der Pförtner, der uns begleitet, schüttelt nur resigniert mit dem Kopf. Wir haben neue Kleidung, zwei Handtücher und Duschcreme dabei. Während Lisa losgeht, um ein paar Lebensmittel zu kaufen, schiebe ich Stefan ins Badezimmer. Zusammen bekommen wir die dreckigen Klamotten ausgezogen, die ich direkt in einen Müllsack stecke. Stefan kann nicht lange stehen unter der Dusche und setzt sich auf den Boden. Eine halbe Flasche Duschgel verbraucht er. Haare und vor allem die mit Fäkalien verklebten Beine schrubbt er Minuten lang.

Schließlich liegt Stefan mit sauberen Klamotten in einem frisch bezogenen Bett. Lisa hat ein warmes Käse-Baguette, eine Sprite, ein Bier und Schokoriegel mitgebracht. Wir stehen vor seinem Bett und er lächelt uns an. „Danke“, sagt er immer wieder. Eigentlich sind wir alle gleich, in unseren Bedürfnissen, in unserer Verletztheit, denke ich, als ich ihn da so liegen sehe. Menschen.

Oliver Ongaro