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Endlich „irgendwie angekommen“: Sandra Martini. Foto: Katharina Mayer

Schattendiva - Aus dem Lebensbericht der fiftyfifty-Verkäuferin Sandra Martini

Ich war achtzehn, als mein Leben aus den Fugen geraten ist. Als mehrere Männer viereinhalb Stunden Hölle für mich wurden. Ich war danach nicht mehr dieselbe. Überall blau, grün, innerlich zerrissen. Die Angst war so tief in mir drin, dass ich danach oft Panikattacken hatte. Ich hätte sterben können – und manchmal dachte ich: vielleicht wär das sogar besser gewesen.

Ich weiß noch, wie ich danach nur noch durch die Straßen gestreift bin. Schlaflos, ziellos. In Spielhallen gab's noch kostenlosen Kaffee. Da saß ich oft. Und dann war da dieser ältere Herr – ein Rentner, der mich angesehen hat, nicht wie eine kaputte Frau, sondern wie einen Menschen. Ich habe niemandem von dem Vorfall erzählt, außer ihm. Der Mann hat mich dann dazu gebracht, zur Polizei zu gehen. Bei der Polizei haben sie mich zuerst ausgelacht. Aber da war eine Beamtin, die mich von früher kannte. Sie hat gesehen, was los war und mich sehr unterstützt. Es kam dann zu einem Gerichtsprozess und drei der Männer wurden verurteilt.

Mein Vater war Syrer, meine Mutter Deutsche. Ich bin in zwei Kulturen aufge­wachsen. In den ersten Jahren war ich ein „Ruhmreichkind“. Meine Eltern haben in einem umgebauten Hühnerstall gelebt – das war so feucht da, deshalb hab ich meine ersten fünf Jahre oft bei meiner Oma gelebt – der deutschen. Wenn sie uns abgeholt hat, ging es erstmal in die Badewanne. Sie meinte, wir sähen so „ausländisch“ aus. Ich werde im Sommer milchkaffeebraun. Viele finden das schön. Sie nicht. Sie nannte es Dreck. Ich hab gesagt: „Das ist meine Hautfarbe!“ Aber sie hat weiter meine Haut geschrubbt.

Ich hab gelernt, mich zu verstellen. Nicht zu zeigen, wie es innen aussieht. Ich denke, das habe ich von meinem Vater. Der nannte es Contenance. Eigentlich verwunderlich, dass so etwas von ihm kam. Denn mein Vater war cholerisch. Wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch stand, hat er den Tisch umgeschmissen. Wenn er wütend war – und er war oft wütend – hat er Holzbügel auf meinem Rücken zerbrochen.

Nach der Vergewaltigung war die Straße mein Rückzugsort. Um Geld zu verdienen, habe ich mich prostituiert. Auf dem Brummistrich, bei den LKW-Fahrern. Es war sicherer. Die hatten Logos an ihren LKWs – man wusste, wer das ist. Wenn ich morgens fertig war, bin ich ins Wellenbad gegangen. Ich hab mir eine Tageskarte geholt, bin hoch zu den Liegestühlen, hab geschlafen. Duschen konnte ich auch. In der Milchbar hab ich mir was zu essen gekauft. Manchmal hatte ich noch zehn Mark für später. Ich war oft bis zum Abend dort. Bin auch geschwommen. Wenn die Wellen kamen - das war Freiheit.

Mit 23 wollte ich heiraten. Er war fleißig, hatte ein gutes Herz - dachte ich. Aber wenn er trank, wurde er brutal. Ich hab ihm den Ring vor die Füße geworfen und bin gegangen. Ich wollte nicht enden wie meine Mutter. Dann war ich wieder draußen. Sex gegen Obdach - das war manchmal richtig widerlich. Aber willst du bei minus 20 Grad auf einer Steinbank schlafen? Ich hab's gemacht. 2005 war das. Ich hatte eine Lungenentzündung. Du kannst dich nicht einfach warm einpacken. Du kannst nicht mal eben zum Arzt. Hast ja keine Krankenversicherung. Keinen Hausarzt. Keine Tabletten. Nichts.

Aber ich hab auch mal auf der anderen Seite gestanden. Hab in der Altenpflege gearbeitet. Hab Menschen begleitet - beim Sterben. Weißt du, was ich da gelernt hab? Auf Wiedersehen zu sagen. Das ist wichtig. Denn wenn du nicht lernst, Auf Wiedersehen zu sagen, dann wirst du es auch nie schaffen, Guten Tag zu sagen. Dann schließt du dich ab.

2007 kam ich ins städtische Obdach. Das heißt: ein Zimmer mit Bett, Tisch, Schrank. Gemeinschaftsbad, Gemeinschaftsküche. Es hat drei Monate gedauert, bis wir einen Herd hatten, bei dem man keinen Stromschlag kriegt. Du musst beim Kochen danebenstehen, sonst ist dein Essen weg. Manche Nachbarinnen waren wie aus einem schlechten Film. Eine hat mir Spülmittel ins Nudelwasser gekippt. Eine andere hat mir CS-Gas ins Gesicht gespritzt, wenn ich Guten Morgen gesagt hab.

Aber dann hab ich meine eigene Wohnung über das „Housing-First-Projekt“ von fiftyfifty bekommen. Ich konnte es nicht fassen. Heute hab ich meine Küche. Ein Fenster zum Garten. Verkaufe meine Zeitschriften, gebe Stadtführungen und bin irgendwie angekommen. Und weißt du, was ich nie verloren hab? Mein Vertrauen in Menschen.

 

Aus einem Gespräch zwischen Henni Schaefer und Sandra Martini in der AKADEMIE DER STRASSE im April 2025. Sandra Martinis Textsammlung „Schatten Diva“ (70 Seiten, A5-Format, Fadenheftung) kann unter www.fiftyfifty-galerie.de/shop bestellt werden.