Warning: Undefined variable $month in /var/www/vhosts/fiftyfifty-galerie.de/httpdocs/controllers/magazine_article.inc.php on line 62

Notice: Undefined property: Smarty::$smarty in /var/www/vhosts/fiftyfifty-galerie.de/httpdocs/libs/Smarty.class.php on line 1321

Warning: Attempt to read property "error_unassigned" on null in /var/www/vhosts/fiftyfifty-galerie.de/httpdocs/libs/sysplugins/smarty_internal_method_configload.php on line 176

Warning: Undefined variable $year in /var/www/vhosts/fiftyfifty-galerie.de/httpdocs/controllers/magazine_article.inc.php on line 62
„Wo bewahrt ihr eure Erinnerungen?“ - Straßenmagazin - Magazin - fiftyfifty
fiftyfifty online lesen +++ fiftyfifty online lesen +++ fiftyfifty online lesen +++ fiftyfifty online lesen +++ fiftyfifty online lesen +++ fiftyfifty online lesen +++ fiftyfifty online lesen +++
 

Das aktuelle Heft online lesen?

Code hier eingeben

Du hast keinen Code? Den Code kannst du auf der Straße bei fiftyfifty-Verkäufer*innen für 2,80 Euro auf einer Rubbelkarte kaufen und dann bis zum Ende des Monats so oft du willst die fiftyfifty online lesen. Den Code erhältst du inklusive eines Loses, mit dem du tolle Preise gewinnen kannst. Das Los haben wir sinnigerweise Obdach LOS genannt.

Bela Winkens auf der Bühne, Düsseldorf um 1987

„Wo bewahrt ihr eure Erinnerungen?“

Bela Winkens‘ „Brief an die Mutter“ beschwört die Schrecken einer Kindheit im KZ

Bela Winkens hat keine Erinnerungen an ihre Mutter. Als diese im März 1943 nach Auschwitz deportiert wurde, war das Mädchen zwei Jahre alt. Der Vater hatte es kurz davor zu Verwandten ins Ruhrgebiet gebracht, wo es versteckt in einer Laube lebte, danach als katholisches Waisenkind getarnt ein Jahr in Hessen. Aber alle Rettungsversuche scheiterten, im Sommer 1944 wurde Bela Heymann, wie sie mit Geburtsnamen hieß, als Jüdin „enttarnt“ und im November nach Theresienstadt gebracht. Bei Kriegsende war sie vier Jahre und drei Monate alt. Bela war eines der hundert Kinder – von 15 000! –, die Theresienstadt überlebten.

Welche Erinnerungen hat ein Mensch an das, was er mit drei, vier Jahren erlebt hat? Wie lebt er mit einem Trauma, das ihn nicht schlafen lässt, mit Albträumen quält und beim Anblick von Schäferhunden, Uniformen oder Zählappellen erstarren lässt? Die Schauspielerin und Autorin Bela Winkens hat sich für die Arbeit an der Erinnerung entschieden. Im Dezember 1986 hatte ihr Soloprogramm „Ich bin an der Erinnerung unheilbar krank“ auf der „Jungen Aktionsbühne“ in Düsseldorf Premiere – unter Personenschutz, denn im Vorfeld war sie von Neonazis angegriffen worden. Neben aktuellen Bezügen, etwa zu Rassismus, Aufrüstung, rechter Gewalt, geht es in dem Stück um eine Kindheit in Theresienstadt. Für ihre Traumabewältigung brauchte Bela Winkens acht Jahre Vorbereitung. In einem Interview sagte sie: „Man liest ja tausend Bücher und sucht nach Dingen, die dazu passen, liest Autobiographien und lässt Leute erzählen – ich zumindest mache das so.“

Diese Recherchen rund um die Schrecken ihrer Kindheit bilden auch die Basis ihres erst jetzt erschienenen Buches Brief an die Mutter, das sie schon in den 90er Jahren verfasste. „Wie erinnert man sich ohne erinnerbare Erinnerung?“ fragt sie darin. „Mein Erinnern ist wie ein Mosaik, das ich erst zusammensetzen muss.“ Aber das Erinnern ist für die KZ-Überlebende ein Auftrag: „Ich versuche, mich zu erinnern, um die Erinnerung an Dich, an all die vielen Toten, nicht verblassen zu lassen.“

„Liebe M … Ich kann nicht … Über Jahrzehnte und Dutzende Male schon habe ich versucht, Dir einen Brief – diesen Brief – zu schreiben. Umsonst. Es ging nicht.
Wie soll ich Dich anreden? Mama, Mame, Mutti, Mutter?“

So stockend fängt dieser Brief an und entfaltet sich zu einem beeindruckenden Buch von großer poetischer Kraft. In Gedichten und Prosa zeichnet Bela Winkens ein umfassendes Bild vom Über-Leben in Theresienstadt, beschreibt den grauenvollen Alltag, aber auch die verlogenen Inszenierungen in diesem Vorzeige-Ghetto, die im Film Der Führer schenkt den Juden eine Stadt gipfelten. Die Realität bestimmten Hunger, Angst vor der unberechenbaren Gewalt, der Anblick von Leichen, die auf einem Karren weggefahren werden, stundenlange Zählappelle. Das alles findet Eingang in die Albträume, die Bela Winkens jahrelang quälten. „Die Marter/Zog nur um/Die Psyche/Hat die Physis/Jetzt verdrängt …“ heißt es in einem Gedicht. Und wie sie sich dabei im Nachkriegsdeutschland fühlte, steht in einem anderen:

Die Mörder
Haben sich
Eingerichtet
Haben
Eine Zukunft
Sich aufgebaut

Die Opfer
Bleiben
In der Vergangenheit
Pflegen
Ihre Toten

Wo bewahrt Ihr
Eure Erinnerungen
Meine
Sind eingekerkert
In meine Träume …

Die Autorin beschreibt auch, wie die Kinder malten, wenn es denn gerade mal erlaubt war, oder mit Stöcken in der Erde Buchstaben zeichneten und sie rasch verwischten, denn Lernen war streng verboten. Und doch stellte Bela als Fünfjährige fest, dass sie lesen konnte. In einer Zeitung sah sie ein Foto mit ausgemergelten Gestalten. Sie fragte: Was ist das? Als sie keine Antwort bekam, sagte sie: „Da steht es doch: Auschwitz. … Bei uns waren auch solche.“

Im Sommer 1946 kam Bela Heymann in ein jüdisches Kinderheim. Sie erwähnt es in ihrem Buch, konnte sich aber nicht an den Namen erinnern. Etwas mit „Nissen“? Dieses Heim befand sich in Ochtmissen, heute ein Stadtteil von Lüneburg. Gabi Bauer und Peter Piro erforschten dessen Geschichte und stießen dabei auch auf Bela Heymann. Akribisch verfolgten sie alle Spuren zu ihrem Leben, lernten sie persönlich kennen und ermunterten sie zur Veröffentlichung ihres Buches. Im Nachwort fassen sie die Odyssee des Kleinkindes zusammen, das erst 1946 durch die Adoption des Ehepaares Winkens ins Leben zurückfinden konnte.

Theo und Else Winkens hatten die Nazizeit in Düsseldorf überlebt. Auch ihre Geschichte beschreibt Bela Winkens in „Brief an die Mutter“. Theo Winkens gehörte zur Widerstandsgruppe der „Aktion Rheinland“, Else Winkens, geborene Rosenthal, musste sich als Jüdin versteckt halten. Die Adoptiveltern kümmerten sich liebevoll um das Mädchen, das zuerst monatelang in einem Gipsbett liegen musste und nur langsam von den allerschlimmsten physischen und psychischen Schäden genas. Später entwickelte es seine musischen Talente, mit 14 Jahren spielte Bela Winkens die Hauptrolle in einem holländischen Theaterstück über Anne-Frank. Damit war ihre Zukunft entschieden. Sie wurde Schauspielerin – und Autorin. Denn: „Ich weiß … Ich bin zum Zeugen auserkoren.“ Sie schreibt im Auftrag ihrer Eltern und all der anderen Toten.

Bela Winkens: Brief an die Mutter. Mit einem Nachwort von Gabi Bauer und Peter Piro. Verbrecher Verlag 2025, Hardcover, 216 Seiten, 22 €