Welttag des Buches - Bücher, die uns geprägt haben – vier „Bekenntnisse“
Für alles gibt es einen Welttag – natürlich auch für das Buch. Vor 30 Jahren rief ihn die UNESCO ins Leben, als Aktionstag für die Jahrtausende alte revolutionäre Erfindung (wenn man bei Tontafeln und Papyrusrollen anfängt), für die Kultur des geschriebenen Wortes und auch – sieh an! – für die Rechte der Autorinnen und Autoren. Als Datum wurde der 23. April gewählt, der Todestag von William Shakespeare und Miguel de Cervantes, wenn man über gewisse historisch-kalendarische Feinheiten hinwegsieht. In Katalonien wird zudem an Sant Jordi, dem Tag des Heiligen Georg, ebenfalls 23. April, traditionell der Tag der Verliebten und der des Buches begangen – man schenkt sich Rosen und Bücher. Auch fiftyfifty ist nun gerade 30 Jahre alt geworden. Anlass für einige mehr oder weniger persönliche Bekundungen aus dem Redaktionsteam in Sachen Lesen & Leben.
Paradestück poetischer Satire
Deutschland. Ein Wintermärchen von Heinrich Heine
Als ich kürzlich in der Zeitung las, dass Friedrich Merz, der Vorzeige-Sauerländer, ein Domizil am Tegernsee, dem „Tal der Reichen“, sein eigen nennt, kamen mir augenblicklich die bekannten Verse aus Heines Deutschland. Ein Wintermärchen in den Sinn: „Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,/ Ich kenn auch die Herren Verfasser;/ Ich weiß, sie tranken heimlich Wein/ Und predigten öffentlich Wasser.“ Seit über 50 Jahren begleitet mich Heine, und sein Wintermärchen war so etwas wie die Initialzündung. Der Rezitator Lutz Görner, vor einem Jahr ist er gestorben, zog damit durch die Lande, er füllte große Säle mit seinem erfrischenden Vortrag dieser ohnehin erfrischenden Verserzählung. Das aufwendig gestaltete Doppel-LP-Album, nationalfarbig umrandet, mit komplettem Text und virtuosen Grafiken, auf denen sich Historisches und Gegenwärtiges munter mischt, dieses Album besitze ich immer noch. „Aufgenommen live am 121. Todestag Heinrich Heines, dem 17. 2. 1977, im Theater k, München“, vermerkt das Cover.
Deutschland. Ein Wintermärchen, basierend auf einer Reise des Exilanten Heine 1843, ein Jahr später erschienen und sofort von der preußischen Zensur scharf ins Visier genommen, ist und bleibt ein Paradestück poetischer Satire gegen den Nationalismus. „Ich höre schon ihre Bierstimmen:“, schreibt Heine im Vorwort, „du lästerst sogar unserer Farben, Verräter des Vaterlands, Freund der Franzosen, denen du den freien Rhein abtreten willst! Beruhigt Euch. Ich werde Eure Farben achten und ehren, wenn sie es verdienen (…) Pflanzt die schwarz-rot-goldne Fahne auf die Höhe des deutschen Gedankens, macht sie zur Standarte des freien Menschtums, und ich will mein bestes Herzblut für sie hingeben.“ Wie furchtbar aktuell das ist in diesen Zeiten der Grenzschließungen, Remigrationsfantasien und Bierzeltparolen.
Gerade zeigt das Heine-Institut die Ausstellung ‚Alles wie verzaubert‘ – 200 Jahre Heines Harzreise (noch bis 4. 5.). Ich nahm sie zum Anlass, endlich auch mal diesen Text von ihm zu lesen. Da ist Heine noch 20 Jahre jünger und unbeschwerter, aber dichterisch zaubern kann er längst, mit Zutaten wie „grünen Bäumen, Gedanken, Vogelsang, Wehmut, Himmelsbläue, Erinnerung“, und wenn ihm Kleingeisterei begegnet, dann verspottet er sie, auch mitten im Harz.
Olaf Cless
Wie ein Vogel in einer großen Hand
Die Tagebücher der Etty Hillesum
Das Tagebuch der Anne Frank ist auf der ganzen Welt bekannt. Aber wer kennt Etty Hillesum? Auch sie war Niederländerin, auch sie wurde von den Nazis ermordet. Und auch sie hinterließ Aufzeichnungen (Das denkende Herz), die allerdings erst 1981 veröffentlicht und seither in viele Sprachen übersetzt wurden. Immer mehr Menschen sind erschüttert und ergriffen vom Schicksal jener Frau, die mitten in Krieg und Verfolgung anfing, ihre intimen Gedanken aufzuschreiben – auf einer weitaus höheren Reifestufe freilich als die viel jüngere Anne Frank. Etty, 27jährige Slawistik- und Psychologiestudentin, war eine Intellektuelle, befasste sich ausgiebig mit der Literatur ihrer Zeit und liebte nicht nur ihren viel älteren Lehrer Julius Spier, einen deutschen Psychoanalytiker und Handleser. Ettys Schriften berichten von den durch die Nazis verfügten Erniedrigungen für die jüdische Bevölkerung. Sie sind zugleich Zeugnis eines geistigen wie religiösen Wachstums im Angesicht bitterster Bedrängnis: „Es geht um unseren Untergang und unsere Vernichtung, darüber sollte man sich keine Illusion mehr machen.“
Während Ettys Umwelt in Angst, Depression, Wut und die aussichtslose Begierde zu überstehen verfällt, entdeckt Hillesum einen inneren Reichtum und Gott in sich – einen irgendwie auch ohnmächtigen Gott. „Wenn Gott mir nicht weiterhilft, dann muss ich Gott helfen. (…) Ich will dir helfen Gott, dass du mich nicht verlässt.“ Es bleibt Ettys Geheimnis, woraus sie innere Stärke und Gefasstheit entwickelt. Viele nennen sie eine moderne Mystikerin und stellen sie in die Tradition einer Hildegard von Bingen, eines Meister Eckart, eines Franz von Assisi oder in heutiger Zeit einer Edith Stein oder Dorothee Sölle.
Im Durchgangslager Westerbork kümmert sie sich aufopferungsvoll um ihre Mitmenschen, die nach und nach deportiert werden. Das Leid in den Baracken vor Augen schreibt sie dennoch: „Ich gehe an jeden Ort, wohin Gott mich schickt, und ich bin bereit, bis in den Tod Zeugnis davon abzulegen, dass das Leben schön und sinnvoll ist.“ Schön? Sinnvoll? Ja. Denn immer wieder gebe es „Augenblicke, in denen ich mich wie ein kleiner Vogel in einer großen, schützenden Hand geborgen fühle.“ Am Ende wird auch Etty mit ihrer Familie in den Tod geschickt. Auf der letzten Postkarte, die sie aus dem Zug nach Auschwitz durch eine Ritze nach draußen wirft, steht: „Ich öffne die Bibel an einer zufälligen Stelle und finde dies: ‚Der Herr ist meine hohe Zuflucht.‘“
Hubert Ostendorf
Hoffnung auf Gerechtigkeit
Utopia von Thomas Morus
„Wenn ich alle diese heutigen Gemeinwesen ringsherum vor meinem Geiste vorbeiziehen lasse, kann ich – so wahr mir Gott helfe – nichts anderes sehen als die reinste Verschwörung der Reichen, die unter dem Namen und Titel des Staates für ihren eigenen Vorteil tätig sind (…). Wo alle Menschen alle Werte am Maßstab des Geldes messen, da wird es kaum jemals möglich sein, eine gerechte und glückliche Politik zu treiben.“ Als 1516 die Utopia des Thomas Morus erschien, fand sie bei den Intellektuellen seiner Zeit, den Humanisten, ungeteilten Beifall, der auch heute noch anhält. Dieses Buch begründet eine neue literarische Gattung, die scharfe Kritik an politischen und sozialen Missständen mit dem Modell einer gerechten Gesellschaft verknüpft. Die Utopie verharrt nicht im „Nirgendwo“, wie es die Übersetzung des griechischen Wortes suggeriert, sondern ist die in eine literarische Fiktion gekleidete Hoffnung, dass sich, auf den Prinzipien der Vernunft, Toleranz und Gerechtigkeit basierend, ein demokratisches Gemeinwesen schaffen ließe, in dem jeder Bürger ein erfülltes Leben führen kann, das auf der Gleichheit der Menschen beruht. Sie ist „Teil der Kraft, sich zu verwundern und das Gegebene so wenig selbstverständlich zu finden, dass nur seine Veränderung einzuleuchten vermag“, wie es Ernst Bloch einmal formulierte. „Einerseits ein Pfeiler unserer innersten Identität, andererseits jedoch auch eine Reaktion des Menschen auf die äußere Welt, auf Leid und Not. Sie will entsprechend die Welt humanisieren und bedient sich dabei nicht zuletzt der Utopie, die das Gegebene nicht als selbstverständlich hinnehmen, sondern, gleichsam einem sozialen Auftrag folgend, Modelle für eine gerechtere Zukunft formuliert.“ Die Utopia des Thomas Morus ist das literarische Urbild dieser Hoffnung.
Es sind nicht nur die überzeitlichen Analysen der Ursachen und Wirkungen sozialer Ungerechtigkeit, sondern auch Bemerkungen wie die folgende, die mich immer mal wieder in die Utopia schauen lassen: „Die Herrschsucht bemisst ihr Gedeihen nicht nach ihrem eigenen Glück, sondern nach dem Unglück der anderen; sie würde nicht einmal Göttin werden wollen, wenn keine Elenden übrig blieben, von deren Jammer ihre eigene Herrlichkeit sich glänzend abheben könnte.“
Hans Peter Heinrich
Der Traum vom Ausbruch aus der Enge
Der rote Seidenschal von Federica de Cesco
So viele Bücher haben mich begeistert und geprägt, aber dieses hat sich am längsten in meinem Bücherschrank erhalten. Beim Wiederlesen kehrte augenblicklich seine Faszination zurück. Ein Abenteuerbuch für Mädchen – das war in meiner Jugend etwas Neues! Geschrieben hat das Buch Federica de Cesco, Tochter eines italienischen Vaters und einer deutschen Mutter. Da sie sich in der Schule langweilte, erfand sie als 16-Jährige gemeinsam mit ihren Schulkameradinnen die Geschichte der 17-jährigen Amerikanerin Ann, die in der Wüstenstadt Mesilla im US-Bundesstaat New Mexiko aus dem Zug steigt, um einer netten Mitreisenden den vergessenen Seidenschal zu bringen. Der Zug fährt ohne sie weiter, die Dame ist verschwunden. Ann ist allein in einer feindlichen Umgebung, hingerissen zwischen Angst und Freude darüber, dass sie ihre strenge Tante losgeworden ist, die sie tugendhaft erziehen wollte. Sie lernt den schönen jungen Mann Chee kennen vom Stamm der White Mountain Apachen und reitet mit ihm in die Wüste hinein, in die Freiheit.
Soweit bedient das Buch natürlich den Mädchentraum vom rettenden Prinzen. Es ist aber, wie die Autorin selbst in einem WDR-Gespräch 2014 betonte, ohne Verklärung der „Indianerwelt“ geschrieben. Federica de Cesco, die heute als 86-Jährige in der Schweiz lebt und noch 93 weitere Romane geschrieben hat, die meist in exotischen Ländern spielen, benutzt zwar noch ohne Hemmungen das Wort „Indianer“, aber ihre Kenntnis der Lebenswelt der First Nations ist beachtlich. Das Buch spielt zu einer Zeit, als junge Mädchen in Amerika noch lange Röcke trugen, als die Weißen hemmungslos alle Nicht-Weißen anpöbelten und die Indigenen in New Mexico ständig gegen Angriffe der Armee um ihr Leben kämpfen mussten. Ann stürzt sich mutig in die Schlacht, rettet mehrere Leben und wird beinahe ein geachtetes Mitglied des Stammes. Beinahe, denn zum Ende muss sie erkennen, dass die Unterschiede zu groß sind und dass sie auf Dauer ihren geliebten Chee in einen tiefen Zwiespalt stürzen würde.
Erschienen ist das Buch erstmals 1957 und wurde ein großer Erfolg. Da war Federica de Cesco schon 19 Jahre alt. Ob sie den Roman wirklich mit 16 Jahren geschrieben hat? Dafür ist er wohl zu gut recherchiert und aufgebaut. Aber Erfunden hat sie ihn sicher schon als junges Mädchen, das wie so viele vom Ausbruch aus der Enge träumt.
Eva Pfister