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Dominik Bloh „Die Straße im Kopf“

Kein Zuhause

Ich habe mich wieder mal verloren, irgendwo zwischen Park und Sky Suite Lounge. Zwischen Oberhausen und Dresden. Zwischen Talkshow und Traphouse. Zwischen Bühne und Straße.

Ich bin voll und das macht mich leer. Ich bin satt, da ist kein Hunger, da ist nur Appetit auf mehr. Alles um mich herum ist in Bewegung, nur ich bleib stehen, dabei laufe ich immer noch hin und her, fahre quer durch das ganze Land, bin heute hier und morgen da. Ich habe eine Wohnung, aber kein Zuhause.

Wer im Dunkeln lebt, weiß, was Licht bedeutet. Es ist Leben. Draußen war in vielen Nächten das einzige Licht das der Straßenlaterne. Es war funktionell wichtig, um ein Buch oder die Zeitung lesen zu können, um die Nacht rumzukriegen, oder um unter dem Licht der Laterne schreiben zu können. Doch es war noch viel mehr. Es war über Jahre
das einzige Licht, das mir ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit geben konnte. In meiner Zeit draußen war Schreiben wie eine Selbsttherapie, um das, was ich auf der Straße erfahren habe, besser ertragen zu können. Es musste
raus aus meinem Kopf.

 

Zeitung

Die Zeitung war ein universelles Werkzeug auf der Straße. Es schneite, es regnete, und was blieb, waren nasse Klamotten, die an meinen Körper klebten. Da waren vielleicht noch ein paar Wechselsachen in meiner Tasche.

Ich zog die Sachen an und kurze Zeit später waren alle Klamotten, die ich besaß, klatschnass. Der Wind war der Endgegner. Eisig zog er umher, fand seinen Weg bis in die kleinsten Lücken und ließ mich bis auf die Knochen frieren. Ich blätterte die Zeitung auf und steckte sie mir unter den Hoodie, das schützte ein bisschen vor Wind und Wetter. Ich habe einmal in einem Buch gelesen, dass ein Mensch den Großteil seines Lebens in seinen Schuhen und im Bett verbringt. Auf der Straße lebt man nur in seinen Schuhen. Ich zog sie nie aus. In der Nacht stülpte ich Plastiktüten über die Schuhe, um das Innere des Schlafsacks nicht dreckig zu machen. Die Schuhe ausziehen konnte ich nicht. Abgesehen davon, dass es Leute gab, die meine Schuhe einfach klauen könnten, was häufig passierte, musste ich, noch dringlicher, immer bereit sein, sofort stabil auf beiden Beinen zu stehen. Ich bin da draußen permanent meiner Außenwelt ausgesetzt gewesen und ich wusste nie, wer als Nächstes vor mir steht. Was ich wusste, war, dass Menschen in ihren Schlafsäcken angepisst, abgestochen oder angezündet wurden. Das waren keine Ausnahmen. Das passierte regelmäßig. Menschen, die auf der Straße leben, werden dort brutal und hemmungslos getötet. Menschen ohne Obdach sind schutzlos. Man muss selbst um sein Überleben kämpfen. Deshalb blieben meine Schuhe immer an. Um einen festen Stand zu haben, um, wenn es sein muss, zutreten oder schnell wegrennen zu können.

 

Fahren ohne Fahrschein

Die paar Euros, die man hat, müssen zum Leben reichen. Das heißt auch zu entscheiden, wofür ich das Geld ausgebe, zum
Beispiel wenn es in der Nacht so kalt ist, dass ich merke, wie mein Körper auskühlt und ich mich mit einem heißen Getränk etwas aufwärmen sollte. Dann kaufe ich mir einen Tee oder Kaffee (…). Essen, Trinken, Hygieneartikel, alles kostet Geld. Ich bezahle das Meiste mit dem Erlös von Pfandflaschen. Das ist die Währung, in die ich Euro umrechne. Auf der anderen Seite gilt es zu überlegen, an welchen Stellen sich Geld abknapsen lässt, um es für Notwendigeres auszugeben.

Ich bin sehr oft mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren, ohne einen Fahrschein zu kaufen. Das konnte an einem Tag sein, an dem mein Magen so geknurrt hat, weil ich schon so lange nicht gegessen hatte, dass ich wahnsinnig wurde. Ich kannte die Anlaufstelle von einer Suppenausgabe, die würde allerdings demnächst schließen. Ich wusste, zu Fuß schaffe ich es nicht mehr rechtzeitig dorthin. Also habe ich, um noch etwas zu Essen zu kriegen, die Bahn oder den Bus
genommen. Wie alle anderen Fahrenden bin ich ebenfalls regelmäßig kontrolliert worden. Ich habe versucht, meine prekäre Lage zu erklären und dass ich die zwei Euro für den Fahrschein nicht habe. Ich hätte nicht einmal Geld, um mir etwas zu Essen zu kaufen, deswegen bin ich unterwegs, um noch eine Suppe umsonst zu besorgen. Das Loch im Bauch ist nämlich im Moment meine größte Sorge. Kulanz gab es in den allermeisten Fällen nicht (…). Am Ende bekam ich von den Kontrolleuren einen Quittungszettel ausgedruckt, auf dem „KF wegen KG“ steht. „Kein Fahrschein wegen kein Geld“ heißt das. 60 Euro ist die Bußgeld-Summe, die ich bezahlen muss, wenn ich ohne gültigen Fahrschein angetroffen werde. An den Tagen, an denen ich es doch noch zur Ausgabe geschafft habe, war das dann die teuerste Suppe, die ich jemals gegessen habe.

 Dominik Bloh: „Die Straße im Kopf. Wie ist ein Weiterleben nach dem Überleben möglich? Raus aus der Obdachlosigkeit, trotzdem kein Zuhause“, 200 Seiten, Kampwand Verlag Oktober 2024

Vertreibung

Ich mache einen Spaziergang. Wie automatisch wandern meine Hände in die Jackentasche. Völlig unbewusst. Man sieht es überall: Hände verschwinden in Hosen und Jacken. Pullover werden über die Hände gekrempelt. Kragen werden hochgeklappt. Kapuzen über die Köpfe gezogen(…). Es ist kalt. Man läuft schneller, nur schnell wieder rein ins Warme. An die Kälte gewöhnt man sich nicht.

Das gilt auch für Menschen auf der Straße. Ich war bei minus 16 Grad draußen. Kälte belastet und engt ein. Sowohl im Denken als auch in der Bewegung. Alles ist wie eingefroren. Man flieht ständig zum immer nächsten wärmeren Platz. Das kann eine Bushaltestelle sein. Kein Regen, etwas Windschutz. Würde ich in diesen Nächten schon einen Rettungsort nennen. Bahnhöfe sind die wichtigsten Haltestellen. Die Suche ist lebensgefährlich. Menschen sterben bei dem Versuch, nicht zu erfrieren.

Die Bänke sind inzwischen überall mit Metallbügeln getrennt. Die Plätze sind rar. Sie werden zerstört, abgesperrt, eingezäunt oder umgebaut. Bänke, auf denen man nicht liegen kann, Mauern, auf denen man nicht sitzen kann. Kein Platz für Menschen auf der Straße. Gitter, Dornen, Stacheln. Es ist ähnlich wie mit den Tauben, die man versucht fernzuhalten, nur sind es in diesem Fall Menschen ohne Obdach. „Defensive Architektur“ nennt man das. Der Begriff wurde zu einem der Unwörter des Jahres gewählt. Man könnte auch „feindliche Architektur“ dazu sagen. Menschen, die auf der Straße leben, werden aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Dabei werden immer mehr Menschen obdachlos und machen Platte, sprich, sie suchen einen Schlafplatz auf der Straße. Es gibt immer weniger Möglichkeiten.

Die Kapazitäten der Notunterkünfte reichen nicht aus. Das Resultat: Gewalt. Menschen schlagen sich um einen Schlafplatz. Ich hoffe, dass sich irgendwann wirklich etwas verändert im Umgang mit Menschen ohne Obdach. In der Politik und in der Gesellschaft.

 

Tag im Park

Die Sonne scheint. Ich sitze auf den Steinen im Park. Hinter mir sind die Palmen. Ich sitze hier nur noch in Shorts. Ich habe alles ausgezogen. Ich fühle mich hier absolut frei (…). Neben mir schläft ein Mann, genau da, wo ich immer geschlafen habe. Er liegt genauso dort, wie ich es tat: Er trägt den Rucksack um sich. Eine Jacke, einen dicken Pullover. Es sind 25 Grad, er hat Socken an. Die Schuhe liegen neben ihm (…). Ich habe mir gerade eine Spezi geholt. Richtig schön gekühlt. Der Mann auf der Holzliege wacht auf. Die Sonne hat auf ihn geknallt, sein Kopf ist rot, als er sich aufsetzt. Natürlich gebe ich ihm mein Getränk. Keine Ahnung, wie lange er da so lag, aber was er jetzt ganz sicher gut gebrauchen kann, ist etwas Feuchtes für die Kehle.

Als Nächster läuft Christian in seinem neuen Sportanzug an mir vorbei. Er schläft in einem Obdachlosenheim. Schon oft hat er mir erzählt, dass er bei Ausgaben von Hilfsorganisationen nichts bekommt, weil er nicht bedürftig genug aussieht. Wer so angezogen ist und ein gepflegtes Erscheinungsbild hat, muss sich häufig auch vor denen rechtfertigen, die eigentlich helfen wollen.

Ein Schmetterling fliegt umher. Ich habe vor drei Sommern gesagt, ich werde so lange geduldig bleiben, bis ein Schmetterling auf meinen Arm fliegt. Bis jetzt hat es noch nicht geklappt. Die Steine sind auch noch am Abend warm, wenn die Sonne untergeht. Viele sind noch hier, einige werden die ganze Nacht bleiben. Ich werde sie morgen hier wiedersehen.

 Dominik Bloh erhält für sein Enhahement für obdachlose Menschen im Dezember 2022 das Bundesverdienstkreuz. / Foto: dpa

Gewohnheiten

Ich denke nicht an morgen. Ich schaffe nichts an, was ich heute nicht brauche. Ich kaufe nicht auf Vorrat ein, ich wasche keine Wäsche, um morgen saubere Klamotten zu haben, ich bereite mich nicht auf den nächsten Tag vor. Eine Sache, die definitiv auch noch von der Straße geblieben ist. Ich brauche nur das Geld, um durch den Tag zu kommen (…). Mehr beschäftigt mich meistens nicht. Erst, wenn der letzte Euro ausgegeben ist und die bevorstehende Aussicht auf das Herumlaufen mit leeren Taschen und einem leeren Magen den altbekannten Stress zurückbringt und die Panik in mir aufsteigt, überlege ich, wie es weitergeht. In den nächsten Stunden renne ich herum, um wieder an Geld zu kommen (…). Ich packe mir manchmal selbst mit der Hand an den Kopf und kann nicht fassen, was ich da wieder gemacht habe. Ich bin mir meines Verhaltens bewusst, aber ich habe es noch nicht geschafft, etwas zu verändern.

 

Unterwegs

Es hat sich so viel verändert. Es ist Sommer und noch immer darf ich mit dem Buch unterwegs sein. Ich bin auf dem A Summer’s Tale-Festival zum Lesen. Es ist ein toller Ort, wunderschön Ich checke ein. Schicke Lobby. Nettes Personal. Eine Frau steht neben mir, erkundigt sich nach den Klimaanlagen in den verschiedenen Bereichen und sagt, dass sie noch einen wichtigen Geschäftstermin hat. Ob sie einen besonders guten Platz haben könnte. Ich bekomme meine Karte für eine Junior-Suite im sechsten Stock und gehe zum Aufzug. Die Frau kommt dazu. Sie guckt mich von oben bis unten an, verzieht das Gesicht. Dann sagt sie: „Das halte ich ja nicht aus. Jetzt dürfen hier auch schon Penner rein. Mit dem fahre ich nicht in einem Fahrstuhl.“

 

Veränderung

Im Grunde habe ich mein ganzes Leben am Existenzminimum und in absoluter Armut gelebt. Ich stand trotzdem vor den Schaufenstern und habe auf die teuersten Dinge geguckt. Ich habe gesehen, was der- oder diejenige besitzt. Ich wollte das auch alles haben. Es kam mir vor, als würde mir zum Glücklichsein immer das fehlen, was andere haben. Neben den materialistischen Dingen war ich ständig dabei, mich mit anderen zu vergleichen (…). Ich habe mein ganzes Leben darauf geschaut, was andere machen. Warum tragen die so teure Designerklamotten und ich muss mit Löchern in den Schuhen herumlaufen? Wieso sehen die so schön aus und ich fühle mich so hässlich? Wieso scheint für viele alles so einfach und ich tue mich mit vermeintlichen Kleinigkeiten schon schwer?

Diese Fragen habe ich mir gestellt. Ich hatte das Gefühl, gar nichts zu können. Das war ein Trugschluss, den ich 27 Jahre in mir getragen habe. Keine Antwort lässt sich da draußen oder bei anderen finden. Jede Antwort liegt in einem selbst. Mir kam eine Erkenntnis: Ich habe ein Talent. Das, was ich gut kann, lag schon eine sehr lange Zeit vor meiner Nase. „Stift und Papier sind immer dabei“ ist ein Satz, den man in Unter Palmen aus Stahl lesen kann. Es ist das Schreiben. Es hat mich mein Leben lang begleitet, ohne dass ich wusste, welche Bedeutung es für mich hat. Ich weiß jetzt, wer ich bin. So wurde aus dem Jungen der Straße ein Mann der Schrift.

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 Dominik Bloh in der Talkshow „3 nach 9“ am 23.11.2018. Bild: AMADIS / Olaf Kosinski

Dominik Bloh
Vom Obdachlosen zum Bestsellerautor

„Für manche klingen zwanzig Quadratmeter klein. Für mich ist es unmöglich, diesen Raum zu füllen. Ich habe einen Tisch, an dem ich schreiben kann und eine Matratze. Ich habe keinen Kleiderschrank. Alles, was ich habe, trage ich seit einem Jahrzehnt in meiner schwarzen Tasche. Ich habe eine Wohnung, aber kein Zuhause (…). Ich kann nicht vergessen, wo ich herkomme. Ich trage Überlebensschuld mit mir. Das könnte ich sein, denke ich immer wieder, wenn ich die Menschen sehe, die immer noch auf der Straße sind.“

Dominik Bloh, Jahrgang 1988, wurde bereits mit 16 Jahren obdachlos. Von seiner psychisch labilen Mutter vor die Türe gesetzt, war er fast 11 Jahre obdachlos. „Am 5. Februar 2005 hat sie mich die Koffer packen lassen - damit ging das wirklich los. Ich war ein Straßenjunge.“ Während seines Überlebenskampfes auf der Straße tat er das, was er noch heute macht: schreiben. „Wenn ich alles aufgeschrieben habe, hat das schon geholfen, die langen Nächte auf der Straße rumzukriegen.“ Seine Gedanken zu Papier zu bringen, war eine Art Selbsttherapie. Aus den Notizen über sein Leben als Straßenjunge entstand sein Buch Unter Palmen aus Stahl (2021). Damit kommt die Wende. Bloh schafft es nach Jahren zurück in eine Wohnung, sein Buch wird Spiegel-Bestseller, deutschlandweit lädt man ihn zu Lesungen ein, er tritt in Talkshows auf und ist gefragter Gesprächspartner für Politik und Prominenz.

Vor allem aber engagiert er sich mit verschiedenen Projekten für seine alten Weggefährten. So hat er die Initiative „GoBanyo“ mitbegründet, die Obdachlosen u.a. einen Duschbus zur Verfügung stellt, der ihnen eine halbe Stunde Privatsphäre und Ruhe zum Waschen bietet, denn „Waschen ist Würde“, weiß er. Inzwischen berät er auch die Bundesregierung und wirkt am nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit mit. Für sein soziales Engagement wurde er 2022 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Doch angekommen ist Dominik Bloh in seinem neuen Leben nicht wirklich. Wie es ist, obdachlos zu sein, kann er nicht vergessen. Immer bleibt Die Straße im Kopf, so der Titel seines neuen Buches, in dem er beschreibt, wie schwer es ist, nach Jahren der Obdachlosigkeit wieder im „normalen“ Leben Fuß zu fassen. Das alte Straßenleben bleibt in seinem Kopf immer präsent, aber auch in der harten Realität vieler tausender Menschen, die in Deutschland ohne Obdach sind.