Kultur
Düsseldorf
Tillys rollende Großkarikaturen
(oc). Während Jacques Tillys Wagenentwürfe für den diesjährigen Rosenmontag noch der Geheimhaltung unterliegen, gibt es im Düsseldorfer Stadtmuseum bereits eine Menge Werke des satirischen Künstlers und seines Teams zu sehen: Jacques Tilly – Freigeist heißt diese erste Retrospektive. Sie zeigt, dass Tillys Grundhaltung in den Ideen der Aufklärung wurzelt, dass es ihm um geistige Mündigkeit und irdisches Glück geht, folglich um die Entzauberung von Antidemokraten und Diktatoren, selbstherrlichen Kirchenfürsten und anderen Ideologen. Von da ist es nicht weit zu den spektakulären und un-verschämten Karnevalsmotiven, die zwar meist nur eine Lebensdauer von einem Tag erreichen und doch nationales und internationales mediales Aufsehen erregen. Manche Großfiguren entstehen auch unabhängig von der „5. Jahreszeit“, wie etwa jener Moses, der der Evangelischen Kirche zornig das „11. Gebot“ präsentiert: „Du sollst Deinen Kirchentag selber finanzieren“.
Bis 10. 8. im Stadtmuseum Düsseldorf, Berger Allee 2, 40213 Düsseldorf
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Mal Diva, mal Frau von nebenan: Susanne Eisenkolb. Foto: Janine Guldener
Ratingen
Judy Garlands gerissener Saum
(oc). Auf vielen und vielerlei Bühnen – vom Schauspiel übers Musical bis zur szenischen Lesung – ist Susanne Eisenkolb schon in Erscheinung getreten. Bei ihrem März-Gastspiel in Ratingen ist die Wienerin in dem musikalischen Schauspiel Sterne, die vom Himmel fallen zu erleben und schlüpft dabei in nicht weniger als zehn Rollen. Denn die fünf Episoden des Abends erzählen jeweils von der unverhofften Begegnung sogenannter „Nobodies“ mit einem Weltstar. Da ist die Toilettenfrau, die Judy Garlands Saum repariert, die Bibliothekarin, die der Piaf das Leben verdankt, die Platzanweiserin, die von Patsy Cline auf die Bühne geholt wird … Die Episoden sind fiktiv, aber denkbar. Und sie erlauben es Susanne Eisenkolb, sich in all diese Frauen zu verwandeln, ihre Dialoge zu spielen und betörende Lieder der Stars zu singen, von den schon erwähnten bis zu Billie Holiday und Maria Callas – also vom Blues bis zur Arie. Eine dreiköpfige Liveband begleitet das Abenteuer.
18. 3., 20 Uhr, Stadthalle Ratingen, Schützenstr. 1, 40878 Ratingen
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„Das Büdchen in seiner ganzen Liebenswürdigkeit“: Tata Ronkholz, Trinkhalle, Köln-Nippes, 1983 © VAN HAM Art Estate
Köln
Die Kommilitonin aus Krefeld
(oc). Tata Ronkholz (1940-1997) gehörte zu den ersten Studierenden in der berühmt gewordenen Photographie-Klasse von Bernd Becher an der Düsseldorfer Kunstakademie ab 1978 – neben Andreas Gursky, Candida Höfer, Thomas Struth u. a. Die verschwindende Welt der klassischen Industriebauten in präzisen Ansichten festzuhalten, war auch ihr ein Anliegen, und so dokumentierte sie etwa alte Industrietore und nahm den Düsseldorfer Hafen aufs Korn. Auch Schaufenster hielt sie gern fest und – ihre umfangreichste Werkgruppe – Trinkhallen an Rhein und Ruhr. „Ich fühlte mich zum Alltag hingezogen“, hat sie gesagt, „ich wollte das Büdchen um die Ecke in seiner ganzen Liebenswürdigkeit zeigen.“ Durch den frühen Tod von Tata (eigentlich Roswitha) Ronkholz ist ihr Werk lange Zeit nur ausschnitthaft rezipiert worden. Nun widmet ihr die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, eine erste große Retrospektive. Auch das Stadtmuseum Düsseldorf hat dazu beigetragen.
14. 3. bis 13. 7., Im Mediapark 7, 50670 Köln, photographie-sk-kultur.de
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„Sing Sing“-Hauptdarsteller Colman Domingo in der Rolle des John „Divine G“ Whitfield © 2023 Divine Film, LLC
Kino
Atempausen im Knastalltag
(oc). Das Filmdrama Sing Sing spielt im gleichnamigen Gefängnis, einem der ältesten der USA. Es basiert auf wahren Begebenheiten, die Figuren sind an reale Personen angelehnt und werden teilweise von ehemaligen Insassen gespielt. Darunter etwa Jon-Adrian Velazquez, einst zu 25-jähriger Haft verurteilt, heute Aktivist für eine Strafrechtsreform. Sing Sing erzählt von einer Häftlings-Theatergruppe, wie es sie seit Gründung des Programms „Rehabilitation Through the Arts“ von 1996 gibt, dessen Ziel es ist, das Gefängnis von innen heraus zu verändern und so auch die Inhaftierten. – Clarence „Divine Ey“ Maclin kommt neu in die Gruppe, ein temperamentgeladener Typ und nicht besonders umgänglich. John „Divine G“ Whitfield (Colman Domingo), der Tonangebende im Team, gibt ihm dennoch eine Chance. Der externe Regisseur liefert als Spielvorlage eine wilde Zeitreise-Farce, gemischt aus ägyptischer Mythologie, Robin Hood, Hamlet u. a. – Maclin übernimmt den Prinzen von Dänemark ... Sing Sing werden Oscar-Chancen nachgesagt.
Deutscher Kinostart 27. 2., 107 Min., ab 12 Jahren
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Essay
Streiten, aber richtig!
„Ein Streit ist nie harmlos, der Abgrund der Vernichtung ist immer da“, weiß die Autorin. In jedem Streit gebe es einen entscheidenden Augenblick. „Es handelt sich um einen Moment nicht länger als ein Wimpernschlag. Die Entscheidung, jetzt, in dieser Millisekunde, lautet: Bleiben oder gehen. Das Bündnis halten – oder kappen. Worte finden, die, auch wenn sie klar und hart sind, ein Weiter ermöglichen – oder diese Anstrengung unterlassen.“ Svenja Flaßpöhler, promovierte Philosophin und Chefredakteurin des Philosophie Magazins, kennt das destruktive Potenzial des Streitens aus eigenem Erleben. Schon als Kind hat sie erfahren,
wie es sich anfühlt, wenn Streit zur Auflösung aller Bindungen führt. Sie erzählt vom Geschrei zu Hause, von knallenden Türen, umstürzenden Regalen und von ihrer Angst, das nächste Wortgefecht der Eltern könnte handgreiflich werden. Vor diesem persönlichen Hintergrund unternimmt die Autorin einen Streifzug durch die Ideengeschichte des „fairen Streitens“, das den Kontrahenten achtet und verhindert, dass aus Gegnern Feinde werden. Dabei zieht sie die Dialoge des Sokrates ebenso zu Rate wie den moralischen Imperativ Immanuel Kants, die Ideen Sigmund Freuds genauso wie die Diskurstheorie von Jürgen Habermas. Weitgehend einig ist sich die Autorin mit den Theoretikern, dass ein fairer Streit stets auch getragen sein muss von der Hoffnung auf Einigung. Auf lange Sicht sei der Streit womöglich nicht das, was Menschen trennt, sondern im Gegenteil etwas, was sie miteinander verbindet. „Wer Feindschaft verhindern will, muss Gegnerschaft zulassen.“ Flaßpöhler hat mit ihrem persönlich-philosophischen Essay ein pointiertes Plädoyer für eine mutige Streitkultur vorgelegt, die „ein Gegenüber nicht als Feind abstempelt.“ Eine sehr lesenswerte, anregende und durchaus notwendige Lektüre in einer Zeit, in der öffentliche Debatten zunehmend aggressiv werden, schnell in digitalen Shitstorms enden oder – Stichwort Cancel Culture - erst gar nicht mehr geführt werden.
Svenja Flaßpöhler: Streiten. Hanser Berlin, 2024. 128 Seiten, Hardcover, 20 Euro
hans peter heinrich
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Roman
Spuren der Kolonialisierung
„Ein Ururgroßvater ist kaum mehr als eine Spur in einem Leben, es sei denn, er hat läppische viertausend präkolumbianische Objekte mit nach Europa genommen.“ Für die peruanische Autorin Gabriela Wiener sind Archäologen wir ihr Vorfahre schlicht Grabräuber. Außerdem, so entdeckt sie bei ihren Nachforschungen, war dieser Charles Wiener ein Hochstapler, der in seinem Buch Perú y Bolivia Orte als seine Entdeckungen ausgab, die schon andere Europäer gefunden hatten.
Der autofiktionale Roman Unentdeckt handelt von den „Entdeckern“ des 19. Jahrhunderts, die unbekümmert die Länder Südamerikas plünderten und ihre Ureinwohner missbrauchten. Charles Wiener hat mit einer indigenen Frau Nachkommen gezeugt und einer anderen ein Kind abgekauft und mit nach Frankreich genommen. Aber das Buch handelt auch von den Spuren der Kolonialisierung in den Seelen und Körpern vieler Peruaner. Ihren Minderwertigkeitsgefühlen, die sich in Europa verstärken, wenn sie wegen ihrer braunen Haut verspottet und nur als Migranten wahrgenommen werden, die niedere Arbeiten verrichten. So wie die Ich-Erzählerin, obwohl sie auch in Spanien eine erfolgreiche Journalistin und Autorin ist. Eine Folge davon ist ihre extreme Eifersucht, mit der sie ihre Liebsten quält. Sexualität spielt für sie eine große Rolle, eine übermäßige, wie sie selbstkritisch reflektiert. „Ich brauche zu viel Sex, um zu vergessen, wie wenig ich mich liebe…“. Ein oft witziges, oft schmerzhaftes, aber stets erhellendes Buch.
Gabriela Wiener: Unentdeckt, Roman, aus dem peruanischen Spanisch von Friederike von Criegern. Kanon Verlag, 192 Seiten, 22 Euro
eva pfister
Wörtlich
„Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen.“
Bertolt Brecht, „Flüchtlingsgespräche“, 1940/41 im finnischen Exil entstanden