Zum Beispiel Schlicherum
Seit Jahrzehnten hilft ein Berufsförderungszentrum im Neusser Süden benachteiligten jungen Menschen, ihre Fähigkeiten zu entdecken. Trotz aller Erfolge ist die vorbildliche Einrichtung akut gefährdet. Was läuft da falsch?
Schlicherum ist ein ruhig gelegener 1000-Seelen-Stadtteil im Neusser Süden. Der Ort, in einer mittelalterlichen Urkunde erstmals als Slikero-heim erwähnt, Heim der am Sumpf Wohnenden, kann mit einer hübschen Barockkapelle St. Antonius aufwarten, benannt nach dem Schutzpatron der Bauern und ihrer Nutztiere, der Schweinehirten und Metzger. Zu den entschieden jüngeren Errungenschaften vor Ort gehört das Berufsförderungszentrum Schlicherum e. V. Seit 1985, also bald 40 Jahren, widmet es sich erfolgreich der Förderung benachteiligter Menschen, vor allem Jugendlicher und junger Erwachsener. Das BFZ hilft ihnen bei der Berufsvorbereitung, der Qualifizierung und der Überwindung schwieriger Lebenslagen. Über 5.000 jungen Menschen konnte so im Lauf der Jahre der Weg in die Gesellschaft und das Arbeitsleben geebnet werden.
Ein klarer, kalter Montagmorgen im Januar. Auf dem überraschend weitläufigen Gelände des BFZ mit seinen hofartigen Gebäudekomplexen, seinen Arbeitsbereichen und Werkstätten herrscht längst Betriebsamkeit. Mit Michael Stork von der Geschäftsführung und seiner Kollegin Juliane Lewinski geht es erst einmal auf einen kleinen Rundgang. Er beginnt in der ursprünglichen Keimzelle des Projekts, einem ehemaligen Bauernhof. Auf alten Fotos, die Stork mitgebracht hat, ist zu sehen, wie marode es hier vor 40 Jahren aussah; aber auch, wie entschlossen die Vereinsgründer*innen Schaufel und anderes Gerät schwangen, um in Selbsthilfe etwas Neues zu schaffen. Heute präsentiert sich etwa der Innenhof vor der ehemaligen Scheune sauber gepflastert und dank einer Rampe barrierefrei. An einer der Klinkerwände: Dutzende von Täfelchen mit den Namen von Stiftern und Spendern.
In der großen, blitzblanken Küche beugen sich gerade drei junge Leute über einen der Herde und tauschen sich mit ihrem Ausbilder aus; es brutzelt was in der Pfanne. Im Unterrichtsraum einen Stock höher findet derweil eine Unterrichtsstunde mit einer Gruppe Ukrainerinnen statt. Sie erhalten hier Informationen über Pflegeberufe und können erste praktische Schritte erproben. Im Raum nebenan wartet zum Beispiel „Frau Müller“ in ihrem Pflegebett auf sie, eine lebensgroße Menschenpuppe.
Am Bereich Garten- und Landschaftsbau mit seinen Gewächshäusern vorbei gelangen wir in einen weiteren Hof, wo u. a. die geräumige, mit etlichen Spezialmaschinen bestückte Metallwerkstatt untergebracht ist. „Neue Wege entstehen beim Gehen“ steht in Kreideschrift auf einer großen Tafel. Wir wissen nicht, worauf die Worte hier in der Werkstatt genau abzielen. Klar ist aber, dass das ganze Berufsförderungszentrum Schlicherum e. V. unverschuldet in eine Lage geraten ist, die es zwingt, rasch nach „neuen Wegen“ zu suchen. Denn das BFZ ist, trotz seiner unbestreitbaren Erfolgsbilanz, trotz höchster Bewertungen und wiederholter Auszeichnungen durch die IHK Mittlerer Niederrhein in seinem Fortbestand „akut gefährdet“, wie Michael Stork sagt. Das wichtigste Standbein des BFZ, nämlich Arbeitsmarktdienstleistungen, die es für die Bundesagentur für Arbeit (BA) und das Jobcenter im Rhein-Kreis Neuss durchführt, ist weggebrochen. Die BA lässt das Zentrum bei den jährlich verlangten Bewerbungen seit 2023 meistenteils durchfallen. Das Rennen im eskalierenden Wettbewerb um die Aufträge machen große, überregional agierende, gewinnorientierte Träger. Kostensenkung hat Priorität, angemessen bezahltes qualifiziertes Personal wird zum Wettbewerbsnachteil und über Jahre gewachsene regionale Netzwerke gehen mit einem Federstrich vor die Hunde.
Juliane Lewinski und Michael Stork können anschaulich und mitreißend erzählen, wie sie immer wieder das Potential benachteiligter Menschen wecken und was sich da schon binnen eines Jahres alles bewegen lässt. Sie erzählen von einem jungen Mann, der direkt aus der Psychiatrie zu ihnen kam, den Hauptschulabschluss schaffte und am Ende sogar den Hochschulabschluss. Es ist so viel möglich, wenn es nur ermöglicht wird. Und umgekehrt bleibt so viel menschliches Potential auf der Strecke, wo Sozialstaat und Bildungsrepublik kaputtgespart und dem ungezügelten Markt geopfert werden.
Die Verantwortlichen des BFZ Schlicherum haben angespannte Monate vor sich. Unter anderem wollen sie verstärkt auf die Betriebe in der Region zugehen. Die können schließlich selbst kein Interesse daran haben, wenn wie derzeit rund 30 Prozent der Auszubildenden die Lehre abbrechen. Im September wird das BFZ mit einem großen Fest sein 40-jähriges Bestehen feiern. Möge es bis dahin ein paar richtig gute Neuigkeiten geben.
Olaf Cless