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Illustration: Leah Artist Mihalic

„Es ist leicht, auf der Straße zu sterben“

Viele der Menschen, mit denen ich auf der Straße gelebt habe, sind nicht mehr hier. Das Elend besiegt am Ende jeden. Nicht alle diese Tode waren Unfälle – manchmal ist der Tod die einzige Tür, durch die man entkommen kann, wenn Körper und Seele völlig erschöpft sind und manche sich entscheiden, zu gehen und Frieden zu finden. Ich habe viel Elend gesehen, viele leere Augen ohne Hoffnung.

Menschen mit Suchtproblemen und Obdachlosigkeit haben sich schon immer in Gruppen zusammengeschlossen, weil das das Überleben und die Beschaffung lebensnotwendiger  Dinge erleichtert. Wir haben überall gelebt. Viele Gebäude, die uns einst Schutz geboten haben, existieren heute nicht mehr. Sie wurden in Einkaufszentren und Luxuswohnungen umgewandelt. Derzeit versammeln wir uns hinter der Methadonklinik; vorher war es der Toman Park, aber wegen der Essensreste kamen Ratten von der anderen Straßenseite dorthin. 

Lass uns in die Vergangenheit zurückgehen. Als ich 12 war, verbrachte ich meine erste Nacht auf der Straße, nachdem ich aus einer Jugendeinrichtung geflohen war. Ich fand Unterschlupf in einem alten, verlassenen Auto. Ich nahm eine Menge Tabletten und dachte, ich würde einschlafen, aber das konnte ich nicht. Meistens hing ich mit Mädchen und anderen jungen Leuten herum, die ebenfalls aus Einrichtungen geflohen waren. Wichtige Unterschlupfsorte waren auch leere Zugwaggons am Bahnhof. Als minderjährige Ausreißer versammelten wir uns auch in der Knafl-Unterführung, wo jemand, der oft ins Ausland reiste, eine geräumige Wohnung hatte. Der Ort war voller schmutzigem Geschirr und anderem Müll, aber es war ein Ort zum Schlafen. Als Gegenleistung für diesen Schutz mussten wir oft sexuellen Missbrauch ertragen. Vor und nach dieser Zeit suchten wir Zuflucht in verlassenen Häusern, aber im Laufe der Zeit riegelte die Polizei die meisten davon ab. Eines davon war eine große, völlig leere Villa, wo wir auf dem Dachboden schliefen. Das österreichisch-ungarische Armeekolosseum und dessen Ställe waren früher schon „Übergangsheime“ für Flüchtlinge, Menschen mit psychischen Problemen, Süchtige, ehemalige Häftlinge und andere Ausgestoßene.

Ich habe nur ein paar Mal in einer 200 Jahre alten Zuckerfabrik geschlafen, weil das Gebäude sehr gefährlich war – alles fiel auseinander und es war so dunkel, dass man nicht sehen konnte, wo man hintrat. Als es auf dem Maximarket-Platz noch einen Parkplatz gab, bettelten wir dort tagsüber und übernachteten in der nahegelegenen Notunterkunft, die es nicht mehr gibt. Ich lebte auch unter der berühmten Burg von Ljubljana und in allen Unterführungen und Parkhäusern der Stadt. Ich schlief sogar am Fluss Ljubljanica gemeinsam mit Alkoholikern, die dort regelmäßig rumhingen. Am Flussufer gab es Container zum Schlafen, aber Süchtige wurden dort nicht geduldet. Morgens, wenn es noch neblig und eiskalt war, mussten wir gehen und in die Stadt flüchten. Wir lebten und versammelten uns auch hinter der Mauer in der Nähe der Methadonklinik, aber die Gebäude dort wurden abgerissen und in einen Parkplatz umgewandelt, was die allerletzte Veränderung außerhalb der Mauern der ehemaligen Kaserne war. Davor lebten wir in den Kasernen selbst, die nach Sloweniens Unabhängigkeitskrieg von den Soldaten verlassen worden waren. 

Nach und nach begannen in Ljubljana verschiedene Organisationen zu entstehen, die uns halfen zu überleben. Es braucht nur ein bisschen Kooperation und persönlichen Einsatz – und man darf nicht alles annehmen, was einem auf der Straße angeboten wird. Erst gestern hat mein Freund ein halbes Gramm Kokain gekauft, aber ich bestand darauf, es mit eigenen Augen zu sehen. Obwohl er verärgert war, zeigte er mir das Zeug, und es war kein Kokain – es war Gott weiß was. Er rannte dem Dealer hinterher und bekam glücklicherweise sein Geld zurück. Sie müssen auf sich selbst aufpassen und beim Kauf vorsichtig sein, denn auf der Straße kann man leicht sterben.

Von Robert Z., Verkäufer der Straßenzeitung "Kings of the Street" (Ljubljana)

Mit freundlicher Genehmigung von Kings of the Street / INSP.ngo. Aus dem Englischen übersetzt von Hans Peter Heinrich

“Opfermerkmal Obdachlosigkeit”

Dieser Vermerk findet sich in deutschen Polizeiakten immer häufiger. Die Gewalt gegen wohnungslose Menschen steigt dramatisch an. Sie reicht von Beleidigung und Nötigung über Diebstahl und Raub bis hin zu Körperverletzung, Totschlag und Mord. Für einige Menschen scheint es mittlerweile schon fast okay, einen Obdachlosen  mit Benzin zu übergießen und anzuzünden. Gewalt findet sich allenthalben in unserer Republik: Im niedersächsischen Peine, wo drei Männer und eine Frau stundenlang auf einen Wohnungslosen eingeschlagen und auf ihn urinieren. In Berlin, wo ein Obdachloser einen anderen im Englischen Garten in Brand setzt. In Immenstadt im Allgäu, wo ein Obdachloser durch mehrere Schläge gegen den Kopf an einer schweren Hirnverletzung stirbt. In Dortmund, wo ein Obdachloser von Jugendlichen erstochen wird. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen – festzuhalten bleibt, dass Gewalt gegen wohnungslose Menschen ein alltägliches Phänomen in unserer Gesellschaft geworden ist.

Allein für das Jahr 2023 erfasste das Bundesinnenministerium 2.122 Straftaten gegen Menschen  mit dem „Opfermerkmal Obdachlosigkeit“.Ein Anstieg seit 2018 um fast 40 Prozent – und das sind nur die offiziell gemeldeten Zahlen. Menschen ohne festen Wohnsitz sind leichte Opfer. Und sie haben kaum eine Lobby. Man weiß ganz genau, wenn man dieser Person etwas antut, dann hat man nicht viel zu befürchten. Wer kümmert sich um einen Menschen, der ohnehin schon am Boden liegt? Von den Tätern ist die Hälfte selbst obdachlos. Der “eine Tätertypus” lässt sich ansonsten nicht ausmachen. Sie kommen aus allen Schichten der Gesellschaft. Wie aktuelle Studien zeigen, nimmt jedoch die rechtsextrem motivierte Gewalt gegen Obdachlose zu. Für sie passt das Opfer offenbar nicht in ihr sozialdarwinistisches Weltbild. So kommt die „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2023 zu dem Ergebnis, dass über ein Viertel der Bevölkerung mindestens teilweise der Überzeugung ist, dass sich in der Gesellschaft „immer der Stärkere durchsetzen“ sollte. Der Aussage „Es gibt wertvolles und unwertes Leben“ stimmen 11 Prozent der Befragten zu, 12 Prozent teilweise. Das ist fast ein Viertel der Deutschen. 

Hans Peter Heinrich