Intro: Florence Hervé über die Gleichstellung der Frau
Liebe Leser*innen,
mitten im Ersten Weltkrieg, am 18. März vor 110 Jahren, protestierten rund tausend mutige Berlinerinnen gegen Teuerung und für Frieden. Eine Woche später, auf Einladung der Initiatorin des Internationalen Frauentags, Clara Zetkin, trafen sich 25 sozialistische Frauen aus acht Ländern zu einer Internationalen Konferenz in Bern. In ihrem Aufruf klagten sie Ende März 1915 die Politik der kriegführenden Länder an: Unter dem Vorwand der Verteidigung des „Wohls des Vaterlandes“ mache sie „Millionen Menschen zu Leichen, zu Krüppeln, zu Arbeitslosen und zu Bettlern, zu Witwen und zu Waisen.“ Der Krieg nütze nur einer kleinen Minderheit in den Nationen, vor allem den Rüstungskonzernen.
Ende April 1915 wandten sich auf dem Haager Frauen-Friedens-Kongress 1.136 Pazifistinnen aus zwölf Nationen gegen den „fürchterlichen Massenmord“ und gegen die Annahme, Krieg sei der einzige Weg, internationale Konflikte auszutragen. Wie aktuell klingen die Worte von damals und die Erkenntnis, dass Frauenrechte und Frieden zusammengehören. Und wie wichtig ist immer noch die weltweite Frauensolidarität für die Verteidigung und das Erstreiten von Frauenrechten.
Im heutigen Deutschland geht die Gleichstellung im Schneckentempo voran, soziale Errungenschaften gehen den Bach runter. Steigende Rüstungskosten und Frauenrechte passen nicht zusammen. Der Gender-Pay-Gap beträgt immer noch fast 20 Prozent - bei Renten und Pensionen gar 50 Prozent. Die Armutsgefährdungsquote der ab 65-jährigen Frauen hat sich in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt. Und der Anteil von Frauen unter den wohnungslosen Erwachsenen ist kontinuierlich gestiegen.
Femizide in Deutschland? Auch das ist traurige Realität. Alle drei Minuten wird eine Frau Opfer häuslicher Gewalt; alle 2,5 Tage wird eine Frau von ihrem (Ex-)Partner getötet. Die Istanbul-Konvention des Europa-Rats von 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ist immer noch nicht ausreichend umgesetzt. Das furchtbare Verbrechen an Gisèle Pélicot in Frankreich, die von ihrem eigenen Ehemann über Jahre der Massenvergewaltigung durch ihn und andere Männer ausgesetzt war, ist kein Einzelfall. Mutig hat sie ihren Fall öffentlich gemacht und vor Gericht einen Sieg errungen. Auch hierzulande gibt es Netzwerke von Männern, die Gewalttaten gegen Frauen planen und begehen.
Schwangerschaftsabbrüche sind immer noch rechtswidrig. Während Frankreich das Recht der Frau auf Schwangerschaftsabbruch in seine Verfassung letztes Jahr aufgenommen hat, gilt hier immer noch eine kaum eingeschränkte Austragungs- und Gebärpflicht der Frau.
Was den Frauenanteil im Parlament angeht, liegt Deutschland mit insgesamt rund 35,7 Prozent auf Platz 45 im internationalen Vergleich. Den geringsten Frauenanteil verzeichnet übrigens die AFD mit rund 11,7 Prozent. Wen wundert’s? Diese sexistisch-rassistische Partei ist gegen Frauenquoten, Parität, Gleichstellungsbeauftragte, Frauenförderung, Mindestlohn und das Selbstbestimmungsrecht.
Im diesjährigen März werden wieder Millionen Frauen in aller Welt für ihre Rechte demonstrieren, für Friedensverhandlungen und Klimaschutz, gegen Gewalt und Femizide, für ihr Recht auf Selbstbestimmung. Das Engagement für gleiche Rechte, Demokratie und Frieden steht weiter auf der Tagesordnung.
Solidarische Grüße
Florence Hervé
Florence Hervé ist eine bundesweit und international bekannte Autorin, freie Journalistin, Dozentin. Seit über 50 Jahren ist sie in der Frauenbewegung engagiert. 2021 erhielt sie den Luise-Büchner-Preis für Publizistik, 2022 den Louise-Otto-Peters-Preis der Stadt Leipzig. In diesem Heft schreibt sie zudem auf den Seiten 14 bis 16 über die Rolle von Frauen im Widerstand gegen die Nazi-Diktatur. Foto: Thomas A. Schmidt www.florence-herve.com