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Liebe Deutsche, … - Straßenmagazin - Magazin - fiftyfifty
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Protest gegen die Gewässerverschmutzung, London, Anfang November 2024 © REUTERS/Chris J. Ratcliffe

Liebe Deutsche, …

… wenn Ihr Eure neue Regierung wählt, dann wählt bitte eine, die möglichst vielen Menschen hilft. Auch, wenn die Welt dem Untergang nahe ist, kann man das Richtige tun. Von A. L. Kennedy

Bevor ich irgendetwas anderes äußere, möchte ich vorausschicken, dass ich glücklich bin und Hoffnung habe. Hätte ich sie nicht, wäre ich permanent mit Dingen beschäftigt, die bis in meine eigene Imagination hinein meinen Geist beherrschen würden. Wie so viele andere habe auch ich eine Arbeit zu verrichten, daher sind Glück und Hoffnung praktische Notwendigkeiten. 

Ein bisschen Glück und Hoffnung erweckt zum Beispiel die Tatsache, dass Boris Johnsons Downing-Street-Memoiren gleich nach ihrer Veröffentlichung in sich zusammensackten wie ein enthauptetes Wiesel. Selbst in einer Medienlandschaft, die wild entschlossen ist, alles Freakige und Grausame zu normalisieren, gab es keine Möglichkeit, Johnsons Orgie der Selbstbeweihräucherung irgendeinem britischen Leser zu verkaufen. Außer vielleicht dem einen oder anderen, der sich gerade von einer Gehirnerschütterung erholt. Der Verlag Harper Collins wettete einen Vorschuss von zwei Millionen Pfund auf ihn und verlor. Glücksgefühle? Na ja, mit diesem Geld hätte man auch gute Bücher auf den Markt bringen können, stattdessen hat Johnson sich wieder einmal bereichert. Hoffnung also? Wenigstens das? 

Meine deutschen Freunde wissen momentan mal wieder nicht so recht, wie ihre Regierung aussehen wird. Meine amerikanischen Freunde wissen es, wüssten es aber lieber nicht. Was wird jetzt aus der Nato, der Ukraine, dem Nahen Osten, den Frauen, den LGBTQ+- Menschen? Trotzdem gibt es Glück und Hoffnung. Ich sehe sie bei anderen, die guten Grund zur Verzweiflung haben, die aber trotzdem sie selbst bleiben und etwas Nützliches tun wollen. Ja, überall zerstören die Mächtigen Schönes, um hässliches Geld zu machen, und manchmal erscheint mir meine eigene Spezies zugleich dem Untergang geweiht und kaum noch rettungswürdig zu sein. Aber es gibt weiterhin Glück und Hoffnung. Man kann weiterhin das Richtige tun. 

Hier im Vereinigten Königreich werde ich weiter mit jungen Schriftstellerinnen und Schriftstellern arbeiten. Zu versuchen, etwas gut genug zu verstehen, um es jemand anderem erklären zu können – das macht mich glücklich, das gibt mir Hoffnung. Das Leben als Schriftstellerin, überhaupt jedes kreative Leben, kann ein Heilmittel in dunklen Zeiten sein. Ein solches Leben befindet sich in einer natürlichen Opposition zu all den entmenschlichenden öffentlichen Diskursen und schäbigen Lügen der Gegenwart. Auch in der Lektüre können wir Glück und Hoffnung finden. Im Vereinigten Königreich haben wir 800 öffentliche Büchereien verloren, aber wir lesen weiter, wir kämpfen für das, was noch übrig ist. 

Die meisten der jungen Autorinnen und Autoren, mit denen ich zusammenarbeite, sind Studenten. Normalerweise würde ich ihnen wohl meine umfassendere Erfahrung und Technik zur Verfügung stellen, und sie mir im Gegenzug ihre jugendliche Leidenschaft und Unverwüstlichkeit. Aber was ist schon noch normal in diesen Zeiten? 

In den frühen Neunzigerjahren, als ich selbst noch eine junge Schriftstellerin war, arbeitete ich mit den Studenten in Schreibkursen an korrekter Zeichensetzung und Metaphernwahl. Irgendwann machten sie dann ihren Abschluss, und die, die gut genug waren, fanden einen Verlag. Die Kosten für ihr Studium trug damals zum Teil der Staat mit Stipendien. Ein solches Stipendium hat mir selbst einst das Studium ermöglicht. Kreative Organisationen unterstützten Schriftsteller. Die Künste wurden damals im Vereinigten Königreich noch ziemlich hoch geschätzt. Natürlich hätten wir uns schon damals mit dem Klimawandel befassen müssen, genau wie mit der Tatsache, dass bereits seit der Reagan/Thatcher-Ära in den USA und im Vereinigten Königreich die Grundlagen von Stabilität, Menschenrechten und Werten immer weiter untergraben worden waren. Aber immerhin konnte man seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Büchern verdienen. Es erschien möglich, gute Literatur zu produzieren und davon zu leben. Britische Künstler, Schriftsteller und Studenten – darunter auch ich – bereisten die Welt und zogen einen immensen Gewinn aus ihren Kontakten mit Europa. Wir waren relativ glücklich. Es gab Hoffnung. 

Dann kam das Jahr 1998, in dem Tony Blair Studiengebühren einführte. Das Leben wurde härter für die Jungen, die Armen, die Behinderten – und für meine Studenten. Aber wir hatten immer noch genügend Gelegenheit, zu lernen und uns über Kommas auszutauschen. Die Menschen arbeiteten mehr und schrieben deshalb weniger, aber die riesige Schuldenindustrie für Studenten war noch nicht entstanden. 

2010 versprach der Vorsitzende der Liberaldemokraten, Nick Clegg, im Wahlkampf, die Studiengebühren abzuschaffen. Es ist ihm und seiner Partei nie verziehen worden, dass sie dieses und andere Versprechen dann brachen – die Studiengebühren wurden sogar erheblich erhöht – und zu stummen Erfüllungsgehilfen in einer Koalition mit den Tories wurden. Dennoch arbeiteten die Studenten zuversichtlich weiter. 

Dann fand das erste gute Buch keinen Verlag, auch das nächste nicht. Qualität war kein Garant mehr für Erfolg. Dichter hatten noch nie gehofft, von ihrem Schreiben leben zu können, jetzt gesellten sich die Romanautoren allmählich auch zu ihnen. Und doch blieb die Hoffnung bestehen. 

Mittlerweile belaufen sich die Gebührenschulden britischer Studenten auf umgerechnet gut 240 Milliarden Euro. Als er sich um das Amt des Labour-Vorsitzenden bewarb, versprach Keir Starmer, die Studiengebühren abzuschaffen. Jetzt, da er Premierminister ist, hat sich sein Kurs geändert. Der Bruch einer ganzen Reihe von Versprechen hat dazu beigetragen, dass die Zustimmungswerte von Labour auf 29 Prozent gesunken sind. 

Labour behält die Obergrenze von maximal zwei Kindern für Kindergeldzahlungen bei. Parlamentsabgeordnete können dennoch für drei Kinder umgerechnet rund 20 000 Euro beantragen. Labour hat das Wintergeld für Rentner gekürzt und wird noch mehr Geld aus dem ohnehin schon verheerend unterversorgten System für Arbeitsunfähigkeits-Leistungen streichen, das sogar schon von einem UN-Berichterstatter verurteilt wurde. Labour wird die Reichen nicht härter besteuern und Abgeordnete, die bei ihren Spesenabrechnungen betrogen haben, nicht verfolgen. Unsere Flüsse sind weiterhin Abwasserkanäle, während die kommerziellen Wasserversorgungsunternehmen Gewinne machen. 

Meine Studenten wissen, dass sie nach der Universität in eine grausame, sich katastrophal erwärmende, instabile Welt entlassen werden. Mehr denn je sind die jungen Menschen, die ich treffe, bereit, über ihre Schwächen zu sprechen und schnell Unterstützungsnetze aufzubauen. Sie haben Zweitjobs, sie haben Drittjobs, sie haben Panikattacken, sie sind müde, sie fallen im Unterricht in Ohnmacht. Die Sünden der Eltern werden an ihren Kindern ausgelassen. 

Und dennoch sind sie glücklich. Ihr Humor ist finster – eine Mischung aus Ökoangst, gemeinsamer Trauma-Erfahrung und Wutbewältigung. Sie planen eine kreative Zukunft, sie schreiben – und zwar nicht nur für sich selbst. Das ist ein Zeichen der Hoffnung. Sie wollen ihre Welt mit Worten verändern, noch immer. Lehren heißt immer auch lernen, und ich lerne von meinen Studenten vor allem etwas über das Leben, über das Überleben im Chaos. Denn Chaos ist wirklich alles, was sie kennen. 

 Straßenszene in London, Ende Dezember 2024 © REUTERS/Mina Kim 

Starmer verspricht, dass das Land, in dem sie leben und das sie erben werden – weil ihre Eltern nicht in der Lage waren, zum Beispiel nach Irland auszuwandern – wirtschaftlich aufblühen wird. Aber ohne eine Rückgängigmachung des Brexits wird das unmöglich sein. Die bisherigen Kosten für unsere Entfremdung von Europa werden auf umgerechnet rund 163 Milliarden Euro geschätzt. Tausende Optimisten sind für den Wiedereintritt in die EU auf die Straße gegangen, auch weil sie auf Starmers Labour vertrauten. 

Es wäre womöglich leichter, bei dieser Regierung Gehör zu finden, wenn wir uns zusammentun und unserem Premierminister einen Minivan voller Abendgarderobe kaufen würden. Während das alte Tory-Regime wegen möglicherweise illegaler finanzieller Verfehlungen angeklagt wird, nimmt der neue Premier gerne üppige Geschenke und Zuwendungen in Form von Fußballtickets an. Starmer hat eingeräumt, dass er allein Kleidung im Wert von umgerechnet rund 20 000 Euro bekommen hat. Trotzdem sieht er noch immer wie eine schlecht gekleidete Kartoffel aus, die es irgendwie geschafft hat, es zum leitenden Bankangestellten zu bringen. 

Wie die USA marinieren wir seit Langem in einer dicken Tunke aus Online-Desinformation. Wie in den USA ist auch bei uns die extreme Rechte sehr laut, zunehmend irre, wird durch einen Großteil der Mainstream-Medien verstärkt und mit Geld undurchsichtiger Herkunft von beiden Seiten des Atlantiks finanziert. Wie in den USA, wo Unternehmen wie United Health durch das republikanische „Project 2025“ gestärkt werden, wird sich der Zugang zur Gesundheitsversorgung auch hier wahrscheinlich verschlechtern. Die private Einmischung in das öffentliche Gesundheitswesen untergräbt schon jetzt den National Health Service, und unser Gesundheitsminister Wes Streeting sähe sehr gern noch mehr davon. Privatinsolvenzen aufgrund unbezahlbarer Gesundheitskosten könnten schon bald Realität werden. Währenddessen streitet sich die neue Tory-Chefin Kemi Badenoch mit dem Schauspieler David Tennant öffentlich über LGBTQ+-Rechte, und ihr unmittelbares Parteiumfeld ist von den ultrarechten US-Republikanern im „Freedom Caucus“ nur durch den vornehmen Akzent zu unterscheiden. 

Liebe Deutsche, wenn Ihr Eure neue Regierung wählt, dann wählt bitte eine, die in der Lage ist, der größtmöglichen Anzahl von Menschen zu helfen. Wählt Ihr Milliardäre und Business as usual, dann werdet Ihr wie wir. Wählt Ihr fossile Brennstoffe und den Autoritarismus, der davon profitieren wird, dann werdet Ihr wie wir. Wählt Ihr Kandidaten, denen Ihr enorme Macht gebt, damit sie Euch helfen, die aber darauf bestehen, andere für Euer Leid verantwortlich zu machen, dann werdet Ihr wie wir. Meine Studenten wurden in die existenzielle Bedrohung, in das intellektuelle Elend hineingeboren, denen meine Generation erlaubt hat, die Welt zu verschmutzen. Aber sie haben schnell gelernt. Ihre Erfahrung mit diesem angeschlagenen Land hat ihnen Überlebenstechniken vermittelt, die zu erlernen ich Jahrzehnte gebraucht habe. Und auch Techniken, die ich nie erlernt habe. Und sie haben immer noch jugendliche Leidenschaft und die Unverwüstlichkeit derer, die ihre Gebrochenheit akzeptiert haben. Eigentlich kann ich ihnen wirklich nur korrekte Kommasetzung beibringen. Sie sind glücklich, sie haben Hoffnung. 

Glück und Hoffnung sind kein Luxus. Wenn zu viele Menschen sie verlieren, gehen Staaten unter. Gerade erst sind wir Zeugen geworden, wie ein ganzes Land für einen Kriminellen und Sexualstraftäter gestimmt hat und nicht für eine Kandidatin, die Freude versprach. Es gibt viele Theorien darüber, warum das passiert ist. Sie kommen von den gleichen Medien, die jahrelang dem kriminellen Sexualstraftäter eine Bühne gegeben und ihn normalisiert haben, indem sie seinen bizarren Tiraden einen Anstrich von Zurechnungsfähigkeit verliehen. Ich vermute, dass sehr viele Menschen in den Vereinigten Staaten so viel Schmerz empfanden, dass sie einfach die Hoffnung verloren. Die Freude anderer inspirierte sie nicht, sie machte sie wütend. Sie sahen darin einen Ausdruck für sie selbst unerreichbarer Privilegien. Und wenn man diesen Zustand erst einmal erreicht hat, wird es sehr finster. 

Wie die USA marinieren wir seit Langem in einer dicken Tunke aus Online-Desinformation“: A. L. Kennedy.
Foto: Amrei-Marie/wikimedia 

 

A. L. Kennedy ist Schriftstellerin und stammt aus Schottland, wo sie auch lebt. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ im Hanser-Verlag. Aus dem Englischen von Alexander Menden. Der Beitrag erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung.