Empathie - Brücke von Mensch zu Mensch
Empathie wird als Brücke zwischen den Erfahrungswelten beschrieben, doch in einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft scheint eine regelrechte Empathie-Kluft zu entstehen. Die Straßenzeitschrift Iso Numero aus Helsinki hat obdachlose Menschen gefragt, was Empathie für sie bedeutet.
Von Leona Kotilainen
„Würden Sie uns ein paar Fragen zu Empathie beantworten?“ „Ja, gehen wir hier rüber“, ruft Jasu, während er im Hilfezentrum für Bedürftige in Helsinki (VVA) Wäsche wäscht. Jasu beschreibt Empathie als die Fähigkeit, „sich in die Gedanken und Worte einer anderen Person hineinzuversetzen und Mitgefühl zu zeigen“. Er selbst hat das Gefühl, Empathie noch nie erfahren zu haben, zumindest nicht seitens der finnischen Sozialbürokratie, an die er sich vergeblich wegen einer Wohnung gewandt hat. Er glaubt, dass die Leute ihn „mit Argwohn betrachten“, weil er einige Zeit im Gefängnis verbracht hat und einfach von einem Schreibtisch zum anderen geschickt wird. „,Tu dies, tu das.' Ich habe das starke Gefühl, dass die Leute mich auf eine bestimmte Weise betrachten, weil ich im Gefängnis war.“ Glücklicherweise erfährt er von alten Freunden Mitgefühl und Ermutigung. Er hilft ihnen und im Gegenzug helfen sie ihm. Erst gestern habe er einem Freund geholfen, möchte aber nicht näher erläutern, wie. „Ich habe einfach ausgeholfen, lassen wir es dabei“, lacht er. Seit den 1980er Jahren war er immer wieder im Gefängnis. Insgesamt fast 30 Jahre hat er abgesessen. „1989 habe ich gelernt, Türen zu öffnen“, deutet er an und meint damit Einbrüche, die zu seinen Haftstrafen geführt haben. Derzeit lebt er in einer Unterkunft für Langzeitobdachlose. Er hat Diabetes, die ihm „die Beine zerfrisst“ und ihn daran hindert, zu arbeiten. Ihm zufolge versucht das Heim, „das Letzte aus seiner kleinen Rente von weniger als 1.000 Euro herauszupressen“.

Empathie ist ein wesentliches Merkmal der menschlichen Interaktion und immer vorhanden, wenn Menschen miteinander interagieren, sagt Sami Keto, Erziehungswissenschaftler von der Universität Tampere. Es gibt verschiedene und sogar widersprüchliche Definitionen. Einfach ausgedrückt, ist Empathie die Fähigkeit, eine Brücke zur Erfahrungswelt anderer zu bauen, erklärt Keto. Über diese Brücke können verschiedene soziale Signale, wie Emotionen, über Sinne wie Berührung, Sehen oder Hören übermittelt werden. Diese Brücke ermöglicht es uns, andere zu verstehen, wenn auch unvollkommen. Empathie erfordert nicht unbedingt direkte Interaktion. Wir können versuchen, die Erfahrungen einer anderen Person mithilfe unserer Vorstellungskraft oder unserer Erfahrungen zu verstehen. Laut Keto können vor allem persönliche Begegnungen Motivation zum Helfen wecken und eine Abneigung dagegen hervorrufen, anderen zu schaden. Jasu bemerkt, dass die meisten seiner Freunde, denen er gelegentlich hilft, Menschen sind, die er aus dem Gefängnis kennt. Er betrachtet diesen Hintergrund als wichtigen verbindenden Faktor. Soziale Nähe ist nachweislich ein Schlüsselfaktor für Mitgefühl. Wenn die soziale Distanz zwischen Menschen wächst, nimmt die Empathie gegenüber weiter entfernten Gruppen ab, wodurch eine Empathielücke entsteht. Starke gesellschaftliche Ungleichheit vertieft diese Lücke weiter. Wohlhabende Menschen empfinden Empathie eher gegenüber ihrer eigenen Gruppe, nicht aber gegenüber jenen, die in der sozioökonomischen Hierarchie weiter unten stehen, fasst Keto zusammen. Er fügt hinzu, dass gesellschaftliche Entscheidungsträger dazu neigen, ihre Empathie auf andere mit ähnlichem Einfluss zu richten. Zum Beispiel wird abfällige Sprache über Menschen, die in Armut leben, nach eigenem positiven Erfolg häufiger, sagte Juho Saari, Professor für Sozial- und Gesundheitspolitik an der Universität Tampere, in einem Interview mit dem finnischen Radiosender Yle. Je größer die wahrgenommene soziale Distanz zu einer Gruppe, desto abfälliger werden die sprachlichen Kommentare und desto stereotyper werden die Ansichten über sie.
Aber können diejenigen, die aus bescheidenen Verhältnissen in Machtpositionen aufgestiegen sind, nicht mit Menschen mitfühlen, die in Armut leben, und ihnen mit Sympathie begegnen? Das scheint nicht der Fall zu sein. „Forschungsergebnisse legen nahe, dass Menschen von Menschen aus armen Verhältnissen mehr Empathie für die Armen erwarten als von wohlhabenden Personen. Aber in Wirklichkeit neigen sie dazu, sogar noch weniger Empathie für die Armen zu haben als andere wohlhabende Menschen“, sagt Keto. Mit welchen Gruppen Politiker Empathie empfinden, hängt davon ab, wen sie treffen. In diesen Kreisen sind Vertreter der Wirtschaft überrepräsentiert, teilweise aufgrund aktiver Lobbyarbeit, also dem Bemühen von Interessengruppen, die politischen Entscheidungsträger zu beeinflussen. „Sowohl Politiker als auch Lobbyisten haben das Gefühl, dass Treffen zwischen Unternehmensvertretern und politischen Entscheidungsträgern wirkungsvoller sind als Treffen mit anderen Lobbygruppen. Politische Führer fühlen sich Unternehmensvertretern gegenüber stark zugehörig, und Empathie wird in diese Richtung ausgeweitet“, fügt Keto hinzu. Wenn man über Empathie und Politik spricht, denken viele an die bekannten Kommentare der finnischen Finanzministerin und stellvertretenden Ministerpräsidentin Riikka Purra, die überzeugt ist, dass Empathie in der Politik nichts zu suchen habe . „Das stimmt natürlich nicht. Politik ist im Wesentlichen eine Reihe interaktiver Begegnungen und Prozesse, die zu einer bestimmten Situation und Interpretation führen, wie gemeinsame Angelegenheiten am besten gehandhabt werden können“, merkt Keto an. Die Abwertung von Empathie, Mitgefühl und Gefühlen im Allgemeinen im Kontext einer strengen Finanzpolitik ist nicht neu. Die wiederholte Botschaft der Regierung, dass massive Kürzungen notwendig seien, „weil es keine andere Wahl gibt“, sei mit einem westlichen Ideal der reinen Rationalität verbunden, erklärt Keto. Riikka Purra wird oft mit Margaret Thatcher verglichen, die für ihre ‚Es gibt keine Alternative‘-Rhetorik bekannt ist. Purras Kommentare wurzeln in derselben Denkweise. „Seit der Aufklärung haben westliche Gesellschaften ein Ideal hochgehalten, in dem richtiges Handeln erfordert, dass die Vernunft über andere Aspekte der Menschlichkeit dominiert.“ Keto argumentiert, dass diese Art von losgelöster Vernunft in Wirklichkeit nicht existiert, da Menschen in der Welt als ganzheitliche Wesen agieren – „wahrnehmend, fühlend, wollend und auch logisch“. Emotionen beeinflussen unweigerlich die Entscheidungen selbst derjenigen, die sich für besonders rational halten. „Wenn eine Person keine Verbindung zu ihren Emotionen hat, kann sie überhaupt keine Entscheidungen treffen. Emotionen liefern auch wichtige Informationen über die Welt, und sie zu ignorieren, führt zu problematischen Konsequenzen, wie der Trivialisierung der Umweltangst junger Menschen“, überlegt Keto. „Man sollte meinen, dass die Illusion reiner Rationalität inzwischen ausgestorben wäre, insbesondere angesichts der ökologischen Krise.“

Jasu, der zu VVA kam, um seine Wäsche zu waschen, sieht Empathie auch als Teil der Politik, genauso wie als Teil des Lebens im Allgemeinen. Suski, die bei VVA arbeitet, stimmt dem zu. Sie wünscht sich, dass Empathie „zumindest in gewisser Weise“ einen Platz in der Politik haben sollte.
„Wir sind alle Menschen, egal, ob Sie der Präsident sind – er ist auf derselben Ebene wie ich, wie wir alle, und wir sollten auf derselben Ebene sein, aber so funktioniert es einfach nicht“, sagt sie. „Ich würde Riikka Purra nicht sofort helfen. Die Wohlhabenden bekommen Steuererleichterungen, während die Geringverdiener und Studenten Kürzungen hinnehmen müssen, nach unten gedrückt und aufgefordert werden, sich Arbeit zu suchen. Im Ernst. Das funktioniert nicht unbedingt. Wir kommen alle aus unterschiedlichen Verhältnissen, und nicht jeder kann einen Job bekommen. Und hier gibt es nicht einmal Jobs.“ Der Raum für Empathie in der Gesellschaft wird laut Keto maßgeblich von kulturellen Narrativen geprägt. Wenn eine Person an Macht gewinnt und in einem sozialen System aufsteigt, beginnt sie normalerweise, Geschichten über ihre Einzigartigkeit zu erzählen. „Die Idee ist: Meine Position bedeutet, dass ich außergewöhnlich fleißig und talentiert bin, anders als andere, die es eindeutig nicht sind, weil sie nicht in dieser Position sind“, sagt er.
Er liefert ein Beispiel dafür, wie Menschen, die die sozioökonomische Leiter hinaufklettern, ihren Erfolg oft bestimmten Eigenschaften zuschreiben, anstatt anzuerkennen oder zuzugeben, dass ihre Leistungen das Ergebnis zahlreicher Faktoren sind. Hinter finanziellem oder politischem Erfolg kann eine erhebliche Unterstützung durch die Familie oder wertvolle Kontaktnetzwerke stecken. Dies gilt auch für viele soziale Bewegungen, an denen typischerweise viele Einzelpersonen mitwirken. Das Verständnis der Menschen dafür, wie sich Dinge ändern, wird durch individuelle Erfolgsgeschichten eingeschränkt, die in traditionellen und sozialen Medien hervorgehoben werden und die die oft notwendigen gemeinsamen Anstrengungen hinter den Kulissen nicht widerspiegeln, bei denen Empathie eine bedeutende Rolle spielt, betont Keto. Dies kommt nicht nur durch individuelle Geschichten zum Ausdruck. Empathie kann durch emotionale oder physische Distanzierung von anderen geschwächt werden. Dies geschieht durch „Andersmachen“, bei dem man andere als Gegner, Feind oder minderwertiges Wesen betrachtet und keine Verbindung zu ihnen verspürt. Trennungen wie wir/sie oder Menschen/Nicht-Menschen vertiefen Empathielücken. Andere Beispiele für diese Unterteilung sind Finnen/Nicht-Finnen, reich/arm, fleißig/faul oder die Bezeichnung anderer als „Parasiten“ oder „invasive Arten“.

Auch Suski kennt dies. „Ich hatte während meiner gesamten Sucht das Gefühl, dass die Bessergestellten keine Ahnung davon hatten, wie es ist, obdachlos zu sein. Jemand liest einfach von einer Messerstecherei irgendwo und das wird sofort auf alle Obdachlosen übertragen“, sagt sie. „Obdachlose und Menschen mit Drogenproblemen sind auch Menschen. Ich war in dieser Situation und wurde wie Dreck behandelt.“ Sie erklärt, dass sie in einem „Kreislauf von Einrichtungen“ gefangen war und von einem Ort zum nächsten wechselte, von neun bis 17, als sie schließlich durch den Kinderschutz in betreutes Wohnen kam. „Schon damals leitete ich ein Obdachlosenheim“, sagt sie. „Ich wollte den Leuten nicht den Rücken kehren und niemanden auf der Straße lassen.“ Suskis Drogenkonsum begann in der Kindheit: „Benzodiazepine und Alkohol mit neun, die erste Spritze mit elf.“ Vor allem ihre Vergangenheit als Drogenabhängige weckte in ihr den Wunsch, anderen in ähnlichen Situationen zu helfen. Heute sieht Suski in ihrer Arbeit auch die Probleme der Menschen. Laut VVA sind heute mehr Menschen als früher auf kostenloses zum Essen angewiesen, und auch der Bedarf an anderen Hilfen ist aufgrund der staatlichen Kürzungen gestiegen. Wenn Bedürftige nach Empathie gefragt werden, verweisen sie auf die Sparpolitik und das Gefühl, dass die Politiker ihre Realität nicht verstehen. „Sie kümmern sich überhaupt nicht um uns. Sie haben ihre Vorurteile, weil sie uns nicht kennen“, sagt Elisabeth entschieden.
Elisabeth besucht das Hilfezentrum jede Woche, um dort zu essen und Freunde zu treffen, und sie versucht, ihnen zu helfen, eine Unterkunft zu finden. Sie glaubt, dass sich die Gesellschaft um die Schwächsten kümmern sollte, weil keiner von uns es allein schaffen kann. Elisabeth zögert, wenn es darum geht, Empathie zu definieren, und beschreibt sie dann als Wohlwollen und Mitgefühl für andere – „absolut unverzichtbar“. Obwohl Jasu während des Interviews nicht an politischen Diskussionen interessiert ist und sagt, dass er keine Zeit hat, die Nachrichten zu verfolgen, hat er eine klare Meinung zu Leistungskürzungen. „Das ist Mist“, sagt er. „Sie wollen es nicht verstehen, sie tun nur das Nötige, damit der Zug weiterfährt. Wenn sie dabei noch etwas anderes abstauben können, dann ist das großartig.“ Jasu hilft seinen Freunden und empfindet Empathie für sie – anders als die Elite. „Diese Art der Missachtung hat eine Wirkung. Man fragt sich, was ein würdiges Leben ist und was für mich besser ist: im Bett zu liegen und in Ruhe fernzusehen oder meine letzten Jahre im Gefängnis zu verbringen.“ Jasu spekuliert, dass die Kürzungen die Menschen irgendwann in den Wahnsinn treiben und zu Gewalt führen werden.

Als Erziehungswissenschaftler betrachtet Keto Empathie nicht nur als einen grundlegenden Aspekt des Lebens, der Politik und der Gesellschaft, sondern auch als etwas, das entwickelt werden kann. Bewusste Empathieerziehung ist eine Möglichkeit, Empathie zu steigern. Die Empathielücke kann überbrückt werden, indem man unterschiedliche Menschen trifft, ihnen zuhört und versucht, sich in ihre Lage zu versetzen. Die Fähigkeit, Dinge aus der Perspektive einer anderen Person zu sehen, kann durch Vorstellungsübungen entwickelt werden. Achtsamkeits- und Präsenzübungen können ebenfalls eine empathiefördernde Wirkung haben. Laut Keto ist es schwierig, diese Fähigkeit zu entwickeln, wenn wir nicht mit anderen interagieren oder ihnen, wenn wir es tun, nicht die gebührende Aufmerksamkeit schenken. „In diesem Fall ist die Brücke bereits kaputt. Empathie beginnt damit, sich auf die andere Person zu konzentrieren. Wir können nur zu denen Brücken bauen, denen wir Aufmerksamkeit schenken. Dies gilt sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene.“ Interaktion, Offenheit und das Vermeiden von Verhärtung sind entscheidend“, ist Keto überzeugt. „Die nordische Wohlfahrtsgesellschaft hat starke Institutionen aufgebaut, was definitiv eine gute Sache ist, aber sie können ohne eine Kultur der Verbindung nicht aufrechterhalten werden. Grundlegendes Verständnis, genaue Informationen über andere, Motivation zu helfen und eine Abneigung, ihnen zu schaden, müssen vermittelt werden.
Mit freundlicher Genehmigung von Iso Numero (Helsinki) / INSP.ngo. Übersetzt aus dem Englischen (leicht gekürzt) von Hans Peter Heinrich.