Intro: Olaf Cless über "Wohnarmut"
ebe Leserinnen und Leser,
Sozialstudien schaffen es selten in die Schlagzeilen, erst recht nicht mitten im Wahlkampfgetöse. Dabei kommt eine neue Studie des Paritätischen Gesamtverbands über Armut in Deutschland zu Ergebnissen, die nicht nur von großer Tragweite sind, sondern auch die Frage aufwerfen, wie es sein kann, dass bisherige Statistiken derart an der Realität vorbeigerechnet waren. Normalerweise erfassen sie nämlich einfach die Haushaltseinkommen und ihre Verteilung. Ein Haushalt mit weniger als 60 Prozent des sogenannten Median-Einkommens – es markiert die Mitte zwischen den 50 Prozent höheren und den 50 Prozent niedrigeren Einkommen – gilt als arm. Dabei bleibt außer Acht, wie viel vom Einkommen für die monatlichen Mietkosten draufgeht. Diesen Faktor, der den finanziellen Spielraum entscheidend bestimmt, wie eigentlich schon Klein-Fritzchen und Klein-Fatima wissen und an ihrem Taschengeld ablesen können, haben die Autor*innen der neuen Studie endlich ernst genommen. Sie haben vom Haushaltseinkommen die gesamten Wohnkosten abgezogen. Der Rest, also das, was den Menschen tatsächlich zur freien Verfügung bleibt, wurde bei der Berechnung der Armutsquote zugrunde gelegt.
Und das kommt bei dieser doch eigentlich selbstverständlichen „wohnkostenbereinigten“ Berechnung heraus: In Deutschland leben nicht wie angenommen zwölf Millionen Menschen in Armut, was schlimm genug wäre, sondern 17,5 Millionen, das sind 21 Prozent. Im regionalen Vergleich schwankt diese Quote der „Wohnarmut“, wie sie die Forscher nennen, je nach durchschnittlichem Wohnkosten- und Einkommensniveau. Markus Söders Bayern beispielsweise kommt mit rund 16 Prozent noch geradezu glimpflich davon, während die feine Hansestadt Hamburg mit 27 Prozent auf eine fast doppelt so hohe Armutsquote kommt als bisher schöngerechnet.
In all diesen Zahlen sind Wohnungslose, Bewohner*innen von Pflegeheimen, Einrichtungen der Behindertenhilfe, von Justizvollzugsanstalten oder Geflüchteten-Unterkünften noch gar nicht erfasst. Wer übrigens meint, nach dem Motto „Im Kittchen ist ein Zimmer frei“ wäre man bei seinen „Wohnkosten“ hinter Gittern fein heraus (im Filmklassiker mit Jean Gabin war wohlgemerkt „kein Zimmer frei“), der kennt zumindest die bayrische Justiz nicht: Die fordert von einem von ihr nachweislich zu Unrecht Verurteilten, inzwischen endlich Freigesprochenen für dreizehn unschuldig abgesessene Jahre 100.000 Euro, sozusagen für Kost und Logis. Noch so etwas, was im Wahlkampfgetöse untergegangen ist.
Kommen Sie gut durch dasselbe!
Olaf Cless
ist Kulturredakteur von fiftyfifty.