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Dass die Gemeinschaft der Jesiden in ihrer langen Geschichte immer wieder verfolgt worden war, erfuhr Ronya Othman schon als Kind. (Foto: Wikipedia)

Verlorenes Paradies

Am Ende von Ronya Othmans erstem Roman "Die Sommer" packt Leyla ihren Rucksack, um sich den Kämpferinnen gegen den IS anzuschließen. Über ein Jahr hatte sie mit ihrer deutschen Mutter und ihrem kurdisch-jesidischen Vater starr vor Entsetzen vor dem Fernseher gesessen und die Massaker der Truppen des „Islamischen Staates“ an den Jesiden verfolgt. Und das war ja nicht der Beginn des Krieges im Norden von Syrien. Seit 2011 gab es Kämpfe, sie begannen mit der Revolution gegen den Machthaber Assad, vor dem Leylas Vater als Kommunist einst nach Deutschland geflohen war. In "Die Sommer" macht die 1993 geborene Ronya Othmann die LeserInnen mit einer unbekannten Welt bekannt: dem Dorf ihrer Großeltern und Verwandten im Norden Syriens, in dem Leyla/Ronya als Kind ihre Sommerferien verbrachte. Es ist die Geschichte eines verlorenen Paradieses, einer Welt mit beschaulichem Rhythmus, mit einer liebevollen Großmutter, die nur ganz wenige persönliche Dinge besitzt und diese sorgfältig über dem Türrahmen aufbewahrt (Kamm, Seife, ein Taschenmesser, Nähzeug und einige Fotos), die aber trotz harter Arbeit viel Zeit für ihre Enkelin hat und ihr die Welt der Jesiden näherbringt. So erfährt Leyla vom Engel Tawsí Melek, den die Jesiden in Form einer Pfauenstatue anbeten, der aber ein ungehorsamer Engel war – weswegen sie Übelwollenden als ein Volk von Teufelsanbetern gelten.

Dass die Gemeinschaft der Jesiden in ihrer langen Geschichte immer wieder verfolgt worden war, erfuhr Ronya Othman schon als Kind. Trotzdem war sie nicht vorbereitet auf das Grauen, das am 3. August 2014 begann. Ungläubig sah sie im Fernsehen, wie Frauen, in Kleidern ganz wie ihre eigenen Verwandten, um ihr Leben rannten. Mit dieser Szene aus "Die Sommer" beginnt auch der neue Roman der Autorin. Er heißt "Vierundsiebzig", denn es ist das 74. Pogrom in der Geschichte der Jesiden: „In den Bergen von Shingal verdursten Kleinkinder, Alte, Kranke. Shingal sei umzingelt, heißt es. Die Männer und die älteren Frauen, die es nicht schaffen, zu fliehen, töten sie. Die jüngeren Frauen und Kinder nehmen sie mit als Kriegsbeute, verkaufen sie weiter auf Sklavenmärkten an Kämpfer des IS. Frauen, die meinen Namen tragen, den meiner Schwester, meiner Cousine.“

Ronya Othmann wird nicht aufbrechen, um sich den bewaffneten Kämpferinnen anzuschließen, aber sie bricht auf, um über die Massaker zu berichten, über die Kultur und die Geschichte der Jesiden. Sie besucht Gerichtsprozesse, wie den in München gegen Jennifer W., eine Deutsche, die einen IS-Kämpfer geheiratet hatte, gemeinsam mit ihm die versklavte Jesidin Nora B. quälte und zusah, wie er die fünfjährige Tochter von Nora B. am Fenster fesselte und in der Sonne verdursten ließ. Es sind Gewalttaten, die einem die Sprache verschlagen. Ronya Othmann schreibt daher ihr Buch weder wie eine spannende Erzählung noch wie ein faktenreiches Sachbuch. Der Roman "Vierundsiebzig" spiegelt in seiner Form eine zertrümmerte Welt. Die Autorin sammelt Scherben auf, legt den LeserInnen Fragmente vor. Sie berichtet von ihren Reisen in dieses Grenzgebiet zwischen Syrien, Irak und der Türkei, in dem die Jesiden lebten, oft im Dorf neben einem muslimischen Ort, den sie nicht zu betreten wagten. Heute noch werden die wenigen Überlebenden angefeindet. Und bis heute sind Tausende von Frauen in der Hand des IS. Oder sie leben in Lagern im Irak, der sie abschieben will in ihre „Heimat“. So wie manche Bundesländer in Deutschland geflüchtete JesidInnen wieder abschieben wollen. Aber dort, im einstigen Paradies von Ronya Othmans Kindheit, gibt es heute nur leere Häuser ohne Wasser und Strom.

Die Autorin nutzt daher jede Gelegenheit, um an die Situation der jesidischen Frauen zu erinnern. So auch die Verleihung des Düsseldorfer Literaturpreises im Oktober. Die Jury lobt den Roman als überzeugenden Versuch, einen Genozid und seine Folgen zu schildern und fasst Ronya Othmanns Verdienst in die Worte: „Der Kultur der Jesiden, die nicht auf Schrift gründet, hat sie damit ein einzigartiges literarisches Dokument geschenkt.“
Eva Pfister

Ronya Othmann: Vierundsiebzig, Roman, Rowohlt Verlag, 508 Seiten, Hardcover, 26 Euro
Die Sommer, Roman, Hanser Verlag, 288 Seiten, 22 Euro oder dtv 13 Euro
Sehr informativ und empfehlenswert auch die „Lange Nacht“ über die Jesiden im Deutschlandfunk Kultur („Zwischen Trauma und Traum“), abrufbar im Netz