Stille Nacht, einsame Nacht
Obdachlose und Weihnachten
Alle Jahre wieder: die ersten Türchen des Adventskalenders sind geöffnet, der Duft von Lebkuchen, frisch gebackenen Plätzchen und die Vorfreude auf die Festtage liegen in der Luft. Weihnachten, viele nennen es: das Fest der Liebe. Doch während die einen noch letzte Besorgungen machen, bevor sie besinnliche Tage mit Geschenken, leckerem Essen, Weihnachtsfilmen, Punsch und ihren Liebsten verbringen, beginnt für viele Obdachlose die schwierigste Zeit im Jahr. Es ist ein eigenartiger Kontrast: drinnen die Wärme, das Licht und das Leben - draußen die Kälte, die Dunkelheit, und das Gefühl, dass die Stadt einen vergessen hat.
„Weihnachten ist ein schwieriges Thema für mich”, sagt Steffi. Ihr Blick wendet sich zum Boden. Darüber spreche sie eigentlich nicht gerne: „Das ist nicht einfach für mich. Ich erinnere mich noch, wie es früher war, wie sehr ich mich auf diese Zeit gefreut habe, mit meiner Familie, den Vorbereitungen und allem Drum und Dran. Aber jetzt mag ich diese Zeit nicht mehr. Sie führt mir drastisch vor Augen, dass ich einsam bin.” Steffi beschreibt die Festtage als besonders schmerzhaft, besonders frustrierend. Es macht sie traurig, wenn sie sieht, wie andere in ihre warmen Wohnungen heimkehren und das Fest mit ihren Liebsten, ihrer Familie, verbringen: „Es ist, als wären die ganze Stadt und alle Menschen für ein paar Tage komplett verschwunden“, erzählt sie. „Alle sind weg, zu Hause bei ihren Familien. Nur wir müssen bleiben.“ So wie Steffi geht es vielen Obdachlosen, die den Kontakt zu ihren Familien verloren haben. Die Einsamkeit ist sowieso ein ständiger Begleiter von vielen Menschen, die auf der Straße leben. Und die sonst so belebten Straßen der Stadt, auf denen Menschen hasten, einkaufen, laut telefonieren oder kurz stehen bleiben, um eine Zigarette zu rauchen, sind an Weihnachten wie leergefegt.
Leergefegte Straßen - davon berichtet auch Claus, der dieses Jahre sein fünftes Weihnachten auf der Straße verbringt: „Weihnachten ist für mich unbedeutend“, sagt er knapp. Für ihn seien die Festtage vor allem anstrengend, eine logistische Herausforderung: „Es ist für mich nur ein, weil man an den Tagen nichts Frisches kaufen kann und sich für die Weihnachtstage alles schon vorher besorgen muss”, sagt er. Seine Erzählungen wirken nüchtern, abgestumpft. Zwar mache sich an den Tagen vor den Feiertagen eine besonders große Hilfsbereitschaft der Menschen, die vorbeigehen, bemerkbar. Viele verteilen selbst gebackene Plätzchen oder geben etwas Geld. Die Festtage seien dafür umso härter: kein Bäcker, kein Imbiss, kein Supermarkt hat geöffnet und trotz hilfsbereiter Passant*innen sei es oft schwierig, in den Tagen davor an ausreichend Geld zu kommen, um sich für die Weihnachtstage mit genügend Essen und Trinken einzudecken. Frische, warme Mahlzeiten zu kaufen, das sei sowieso so gut wie ausgeschlossen: Leere Straßen bedeuten für Obdachlose auch leere Taschen. Manchmal versucht Claus in einer Obdachlosenunterkunft an eine warme Mahlzeit an den kalten Wintertagen zu kommen, aber die seien um Weihnachten meistens viel zu überfüllt. Ob er auch ein Gefühl von Einsamkeit spürt? „Natürlich hätte ich auch gerne eine Familie, mit der ich Weihnachten feiern kann. Aber, ganz alleine bin ich ja eigentlich nie”, sagt er lachend, während er seine Schäferhündin neben sich streichelt. „Und an manchen Tagen setze ich mich einfach zu anderen Kollegen von der Straße“ - nach dem Motto „gemeinsam einsam sein”.
„Ich treffe mich an Heiligabend immer mit ein paar Kollegen von fiftyfifty, und dann essen wir zusammen, trinken was und verbringen so den Abend“, erzählt Martin, der seit über zehn Jahren auf der Straße lebt. Ein kleines Ritual, das den Schmerz der Ausgrenzung für einen Moment lindert. „In dem Moment sind wir wie eine kleine Familie“, sagt er. Unter einem Bahnübergang, mit etwas zum Essen und Trinken - das ist Heilig Abend für Martin und seine Freunde. Martin hat dabei auch einen Wunsch an das Christkind, den man nicht in Geschenkpapier einwickeln und unter den Weihnachtsbaum legen kann: „Ich wünsche mir, dass sich in Deutschland ein paar Dinge ändern; dass uns mehr zugehört wird und wir nicht von allen vergessen werden”, sagt er. Damit kritisiert er vor allem die Politik, die immer mehr für Reiche tue als für Arme.
Auch Pascal, der seit neun Jahren Weihnachten auf der Straße verbringt, kennt das Gefühl, vergessen zu werden, an diesen Tagen nur zu gut. Am 24. Dezember geht er, wie in den letzten drei Jahren zuvor, zu einer Veranstaltung des CVJM für einsame und wohnungslose Männer. „Der ganze Saal ist immer voll, das ist ganz gut!”, sagt er. All die Menschen zu sehen, die alle allein gekommen sind, um sich zusammen zu finden, das sei ein kleiner Trost. Zu essen gibt es traditionelles Weihnachtsessen: Braten, Klöße und Rotkohl, und das ganze wird musikalisch von Musiker*innen der Musikhochschule begleitet.
Pascal erinnere das an seine Kindheit.
Weihnachten sei für ihn daher ein Fest gemischter Gefühle.
Auf der einen Seite ist da die Freude darüber, dass er mit seinem Schicksal nicht allein ist und er für den Abend einen Platz hat, an dem er willkommen ist. Auf der anderen Seite ist er aber auch traurig. Traurig über das, was er nicht mehr hat: ein Zuhause, eine Familie, Geld für warmes Essen. Trotzdem blickt er hoffnungsvoll in die Zukunft: „Zu Weihnachten wünsche ich mir eigentlich nicht viel. Es wäre schön, wenn ich das Fest wieder in einer eigenen Wohnung feiern könnte.”
Es sind die kleinen, oft immateriellen Dinge, die Obdachlose an Weihnachten am meisten vermissen: ein Zuhause, eine Familie, ein Ort, an dem sie willkommen sind. Alle Jahre wieder bleibt die Weihnachtszeit für Menschen wie Steffi, Claus, Martin und Pascal eine Erinnerung daran, was sie verloren haben – und eine leise Hoffnung darauf, dass sich eines Tages etwas ändert.
Noemi Pohl