Gisa ist frei

https://www.ddorf-aktuell.de/2023/03/06/duesseldorf-ist-es-eine-straftat-wenn-man-kein-geld-fuer-das-bus-ticket-hat/

https://rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/duesseldorfer-fordern-keine-haft-fuers-schwarzfahren_aid-86102105

https://www1.wdr.de/fernsehen/lokalzeit/duesseldorf/videos/video-lokalzeit-aus-duesseldorf---2134.html

https://www.stern.de/gesellschaft/strafe-fuers-schwarzfahren--gisa-maerz-sitzt-seit-ueber-100-tagen-in-haft-33195376.html

(NRZ). Balu ist die Freude über die Rückkehr seines „Frauchen“ deutlich anzumerken. Der Vierbeiner tollt um Gisa März herum, lässt in den Räumen von fiftyfifty an der Höhenstraße in Oberbilk gar nicht mehr von der zierlichen Frau ab. Zu lange musste der Hund ohne die Düsseldorferin auskommen. Denn: Vier Monate saß die 56-Jährige in einem Gefängnis in Willich ein. Weil die fiftyfifty-Verkäuferin zweimal in kürzeren Abständen beim Bahnfahren ohne Fahrschein erwischt wurde, wurde sie im Herbst zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Anfang November trat sie ihre Haft an.

Nachdem sie zwei Drittel der Strafe verbüßt hatte, kam die „berühmteste Schwarzfahrerin Deutschlands“, wie Oliver Ongaro von fiftyfifty Gisa März bezeichnet, am vergangenen Donnerstag frei (NRZ berichtete). Weil sie nach ihrer Freilassung noch einige Botengänge zu erledigen hatte, konnte sie erst drei Tage nach der Haftentlassung ihren Hund wieder in die Arme schließen. „Ich habe den Hund erst am Sonntag abgeholt“, sagt die Zeitungsverkäuferin. Der zehnjährige Balu kam in den vier Monaten bei einem Bekannten unter, erzählt März weiter.

Die vier monatige Haft sei „krass gewesen“, berichtet die Frau. Zwei Wochen lang sei sie in ihrer Zelle ohne Fernsehen gewesen, in den letzten zwei Wochen habe man ihr ihren Wasserkocher abgenommen. Auch das Substitutionsprogramm sei für die Suchterkrankte nach nicht mal zwei Wochen Haft eingestellt worden: „Ich habe nach zehn Tagen kein Methadon mehr bekommen. Dann wurde ich abdosiert.“

Dass das Fahren ohne gültigen Fahrschein eine Straftat ist, wisse sie natürlich, so März weiter. Weil sie jedoch kaum Geld zur Verfügung habe, blieb ihr nach eigenen Angaben aber nichts anderes übrig: „Ich fahre natürlich nicht gerne schwarz. Aber für zweimal Schwarzfahren sechs Monate zu kriegen, ist nicht gerechtfertigt. Da hat man einfach willkürlich eine Strafe verhängt“, meint die fiftyfifty-Verkäuferin.

Die Anteilnahme an ihrem Schicksal sei groß gewesen, erzählt März: „Die Unterstützung hat mir trotz der Haft sehr gut getan, und ich habe mich sehr darüber gefreut. Sei es aus Neuseeland, Berlin Hamburg, von Breiti von den Toten Hosen oder Wagenbauer Jacques Tilly: Ich habe gemerkt, dass ich nicht alleine bin.“ Auch ihre Kinder haben die ganze Zeit zu ihr gehalten, berichtet die Frischentlassene.

Pater Wolfgang Siefert, der beim NRW-Justizministerium erfolglos ein Gnadengesuch für die 56-Jährige stellte, habe sie auch im Gefängnis weiter unterstützt. Dass Gisa März im November tatsächlich ins Gefängnis musste, habe laut Siefert „eine Fassungslosigkeit in der Bevölkerung verursacht“. Der Geistliche könne nach eigenen Angaben bereits auf drei Jahrzehnte zurückblicken, in denen er mit Menschen „mit Knasterfahrung“ zusammengearbeitet und unterstützt hat. Daher weiß er auch, dass die Gefängnisse in NRW voll sind mit Menschen, die wegen solchen Delikten einsitzen müssen: „In den Gefängnissen gibt es eine Überbelegung. Das liegt daran, dass viele Menschen inhaftiert werden, die viele kleine Straftaten begangen haben und eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen.“ So wie Gisa März. Unverständlich für den Pater: „Das ist eine Bestrafung für Menschen, die in Armut leben oder davon bedroht sind.“ Deswegen gehöre der Paragraf 265a aus dem Strafgesetzbuch, dem „Erschleichen von Leistungen durch die Beförderung durch ein Verkehrsmittel ohne gültigen Fahrschein“, für Siefert „abgeschafft“

Die Düsseldorfer SPD-Bundestagsabgeordnete Zanda Martens pflichtet bei: „Gisa wurde stellvertretend für Zigtausende, die sich eine Fahrkarte nicht leisten können, verurteilt. Deswegen gibt es bei dem Umgang mit solchen Delikten für die Zukunft dringenden Handlungsbedarf.“ fiftyfifty fordert daher, aus dem Fahren ohne gültigen Ticket eine Ordnungswidrigkeit zu machen. Auch im Bundestag kam das Thema zuletzt auf die Agenda, wie Martens verrät: „Es muss was passieren. Es ist auch bezeichnend, dass der Paragraf aus dem Jahr 1935 stammt, da weiß man welches Geisteskind dahinter steckt.“

In Berlin werde im Hintergrund deswegen auch an einem neuen Gesetz gearbeitet, berichtet Martens: Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) arbeite derzeit an einem neuen Gesetzesentwurf. „Der soll unter anderem beinhalten, dass die Tagessätze, die auch auf solchen Strafen stehen, zumindest halbiert werden sollen.“ Dies wäre zumindest ein erster, kleiner Schritt, betont die SPD-Frau. Dennoch hofft die Bundespolitikerin, dass „wir Schwarzfahren durch neue Gesetze zu Ordnungswidrigkeiten abstufen können.“ Wann die Gesetzesvorlage kommen soll, stehe noch nicht fest. „Ich hoffe, dass das dieses Jahr noch passiert.“ Dass Gisa März erneut ohne Fahrschein erwischt wird, dürfte unwahrscheinlich sein – fiftyfifty hat ihr ein Monatsticket besorgt.

 

 

Auf Facebook hat die Bundestagsabgeordnete Zanda Martens (SPD) geschrieben: 

Schön, dass ich heute Gisa März in Freiheit bei fiftyfifty persönlich kennenlernen durfte. Warum Gisa im Gefängnis war, was sie dort erleben musste und wie ihr Leben jetzt weitergeht - das Interesse der Düsseldorfer Presse und TV war heute enorm.

Warum? Gisa hat die letzten vier Monate im Gefängnis verbracht, weil sie zweimal schwarzgefahren ist. Keine öffentlichen Appelle, sie zu begnadigen, kein Geld dieser Welt, mit dem man hätte die Strafe für sie bezahlen können - nichts hat geholfen. Weil das Erschleichen von Beförderung durch Verkehrsmittel (bekannt als Schwarzfahren) in Deutschland seit 1935 bis zum heutigen Tag als Straftat unnachgiebig verfolgt wird, wofür bis zu einem Jahr Haft droht.

Wie menschenunwürdig und wirtschaftlich unsinnig zugleich das ist, hat der Fall von Gisa stellvertretend für zig-tausende jährlich Betroffener gezeigt. Wer meint, Schwarzfahrer:innen seien doch selbst schuld, führen sie doch ohne Ticket und wollten uns alle betrügen - der sollte mit Menschen wie Gisa sprechen und dann unter dem Einfluss eines vollkommen anderen Menschenbildes die Gesetze verändern. 

Gisa betonte heute immer wieder, wie gerne sie für jede Fahrt ein gültiges Ticket hätte, wenn sie bloß das nötige Geld dafür hätte. Wie selbstverständlich das für sie ist, dass man für Schwarzfahren eine Strafe bekommt - aber vielleicht zunächst als Sozialarbeit, dann vielleicht als Geldstrafe, die bei Wiederholung ansteigt, alles hätte sie ja akzeptiert, nur nicht dafür in den Knast einfahren! Auf Verständnis für ihre Situation hat sie sich in unserem Rechtsstaat bisher nicht verlassen können - eher erhielt sie so gute Ratschläge, wie sich doch bitte bereits um 4 Uhr morgens zu Fuß zur Methadonstelle aufzumachen...

Wenn man mit den Betroffenen spricht, sieht man, wie arme, kranke, obdachlose Menschen auch selbst darunter leiden, dass sie einfach nicht in der Lage sind, sich immer und umfänglich an alle Regeln zu halten. Sie geben sich eher selbst eine individuelle Schuld, statt die notwendige gesellschaftskritische Frage zu stellen, warum wir beim Bürgergeld nicht ein ÖPNV-Ticket einkalkulieren und es jedem Bedürftigen einfach aushändigen? Dann müsste schlicht keiner mehr schwarzfahren und unsere Polizei, Gerichte und Justizvollzug hätten schlagartig wieder viel mehr Zeit, Personal und Geld, um die wahre Kriminalität oder Wirtschaftsdelinquenten zu bekämpfen, die uns als Gesellschaft um richtig große Summen betrügen.

Wir dürfen Schwarzfahren nicht länger kriminalisieren! Seit spätestens 1945 gehört dieser Paragraph abgeschafft. Dass wir im Jahr 2023 immer noch darüber diskutieren, liegt daran, dass arme, alte, kranke Menschen keine starke Lobby in der Politik haben. Aber der öffentliche Druck steigt endlich und der Bundesjustizminister hat eine Änderung im Strafgesetzbuch für die zweite Hälfte dieses Jahres angekündigt - dass die Straftat des Schwarzfahrens zur Ordnungswidrigkeit umgewandelt wird, mindestens das müssen wir im Bundestag hoffentlich noch in diesem Jahr beschließen.