Obdachlosigkeit, der erweiterte Kunstbegriff und die Soziale Plastik

Grafiken und Plakate von Joseph Beuys zum 100sten in der fiftyfifty-Galerie

Als Joseph Beuys 1986 gestorben ist, gab es fiftyfifty noch nicht. Sonst hätte er die Obdachlosenhilfe sicher unterstützt, sagt sein Meisterschüler und unermüdlicher Apologet Johannes Stüttgen, der sich bereit erklärt hat, zur Eröffnung einer Ausstellung mit Grafiken und Plakaten Rede und Antwort zu stehen – was für eine große Chance, dem Ausnahmekünstler Beuys und seinen Intentionen so nahe wie möglich zu kommen. Die Eröffnung fand aber - coronabedingt - nicht in der fiftyfifty-Galerie in der Jägerstr. in Düsseldorf-Eller statt, sondern am Vortag des 100sten an einer Litfaßsäule am Rheinufer, gestaltet von Design-Professor Wilfried Korfmacher und Studierenden aus Motiven, die der rastlose Beuys hinterlassen hat.

Die Litfaßsäule steht nicht weit von der Akademie, an der Beuys gelehrt hatte und aus welcher der damalige Wissenschaftsminister Johannes Rau ihn hinausgeworfen hat, weil er Studierende ohne offizielle Zugangserlaubnis aufgenommen hatte, getreu seines Credos: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“ Die Eröffnung der Ausstellung am Rhein ist auch insofern programmatisch, als Beuys-Schüler Anatol, ein ehemaliger Polizist, ebenfalls ohne offizielle Zugangsberechtigung, seinen berühmten Lehrer 1973 in einer spektakulären Aktion mit einem Einbaum über den Fluss gesetzt hatte, um ihn zurück zur Akademie zu bringen.

Die bei fiftyfifty gezeigten Arbeiten (https://www.fiftyfifty-galerie.de/kunst/7907/joseph-beuys) sind Zuwendungen von Spender*innen, insbesondere der Verleger-Brüder Rolf und Klaus Staeck, letzterer der bekannte Plakatkünstler und Beuys-Weggefährte, die ihr umfangreiches Depot für die engagierte Sache durchsucht haben. So kommt also Beuys, der Grenzgänger, Systemüberwinder, Schamane, Revoluzzer der Kunsttheorie, der Unfassbare posthum zu der Gelegenheit, fiftyfifty doch noch zu helfen. Darüber freut sich sogar auch Eva Beuys, Witwe des Künstlers, in einem längeren Telefonat, sowie der berühmte Ehemalige Imi Knoebel, der anlässlich des Beuys-Jubiläums aus seiner aktuellen Edition „1.000 Hasen“ spontan 100 Multiples für die Unterstützung obdachloser Menschen gespendet hat (https://www.fiftyfifty-galerie.de/kunst/327/imi-knoebel). Knoebel und all die anderen, die bei Beuys studiert und später fiftyfifty geholfen haben, wie etwa Felix Droese, Jörg Immendorff oder Katharina Sieverding, ist gemein, dass sie nicht nur den konkreten Einsatz für die am stärksten Ausgegrenzten der Gesellschaft schätzen, sondern auch die Aufsässigkeit, Beharrlichkeit und den Mut, wenn es darum geht, die Ursachen, warum es Not und Elend gibt, öffentlichkeitswirksam zu benennen. Und mag das berühmte Zitat noch so sehr strapaziert worden sein - wenn fiftyfifty-Verkäufer*innen sich aus Protest gegen das Weggucken und die Vertreibung aus der Öffentlichkeit auf Galeriesockel unübersehbar und trotzig vor das Rathaus stellen, wie einst geschehen, was sind sie denn dann anderes, als Künstlerin oder Künstler, ganz in dem Sinne, dass jeder Mensch doch eine/r sei, Lebens- und Überlebenskünstler allemal? Was sind sie dann anderes, als das, was Beuys in seinem berühmten Begriff von der „Sozialen Plastik“ ausdrücken wollte? Indem der Mensch mit der Kunst konfrontiert sei, sei er „mit sich selbst konfrontiert“, so Beuys einmal – mit sich selbst, seinen Möglichkeiten und seiner Zukunft, die es aktiv zu gestalten gelte. „Die Zukunft, die wir wollen, muss erfunden werden. Sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen“, lautet eines der bekanntesten Zitate des vor 35 Jahren gestorbenen und bis heute von Vielen verehrten Visionärs. Und auch das: „Das Kunstwerk ist das allergrößte Rätsel, aber der Mensch ist die Lösung.“ Was, um es hinzuzufügen, sicher auch für die Überwindung der Obdachlosigkeit gilt.