Von Wien lernen

In der österreichischen Hauptstadt ist Housing First etabliert

„In den 77 deutschen Großstädten fehlen gut 1,9 Millionen bezahlbare Wohnungen, darunter etwa 1,4 Millionen günstige Apartments unter 45 Quadratmetern für Einpersonenhaushalte“, heißt es in einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Und weil dies so ist, haben sozial Benachteiligte es sehr schwer auf dem umkämpften Wohnungsmarkt, Obdachlose haben so gut wie gar keine Chancen. Ihnen bleiben Notunterkünfte und allenfalls spezielle Einrichtungen, aus denen heraus die Vermittlung in reguläre Wohnungen des freien Marktes kaum gelingt, sodass sie zumeist wieder auf der Straße landen. Forscher nennen dieses Phänomen „Drehtüreffekt“: Vom betreuten Wohnen wieder auf die Straße und von dort erneut wieder in die Notunterkunft.

Eine Alternative dazu ist das Konzept „Housing First“. Dabei werden Obdachlose direkt in normale Wohnungen vermittelt – in normalen bürgerlichen Häusern, mit normalen Mietverträgen. Hinzu kommen wohnbegleitende und tagesstrukturierende Maßnahmen, um den dauerhaften Erhalt der Wohnung zu gewährleisten. fiftyfifty verfolgt diesen Ansatz nun seit drei Jahren. Allein in Düsseldorf wurden 52 Obdachlose dauerhaft von der Straße geholt, bei Partner-Organisationen im Projekt Housing-First-Fonds (www.housingfirstfonds.de) immerhin auch schon zwei; viele weitere sollen folgen. Weil aber keine Wohnungen für chronifiziert Wohnungslose, die Ärmsten der Armen in dieser Gesellschaft, zur Verfügung stehen, kaufen wir sie an, aus Spenden und den Erlösen der fiftyfifty-Benefiz-Galerie. Da, wo der Staat versagt, springt fiftyfifty sozusagen in die Bresche, nicht ohne die Versäumnisse lautstark anzuklagen und Forderungen zu erheben.

Ganz anders ist die Situation in Österreich, wo Housing First zum Standard in der Wohnungslosenhilfe gehört. Das fiftyfifty-Team hat sich in Wien bei der wegweisenden Organisation „Neunerhaus“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Neunerhaus) kundig gemacht und dabei Erstaunliches erfahren. Die Hauptstadt der Alpenrepublik blickt auf über 90 Jahre sozialen Wohnungsbau zurück und „gilt international als Beispiel für einen funktionierenden Markt mit günstigem Wohnraum“, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) konstatiert. Die Stadt kontrolliert mit über 220.000 Gemeindewohnungen – was für ein schönes Wort gegenüber dem deutschen, abfälligen Begriff „Sozialwohnung“ - mehr als ein Viertel des gesamten Marktes. Hinzu kommen noch viele Genossenschaftswohnungen. Sechs von zehn Menschen wohnen in Wien in geförderten Wohnungen. Während in Deutschland riesige Bestände an profitorientierte Heuschrecken verscherbelt wurden, hat Österreich den Bestand an subventionierten Wohnungen konsequent immer weiter ausgebaut. Mit der Folge, dass der Mietpreis in den geförderten Segmenten bei nur etwa 6,50 Euro pro Quadratmeter inklusive Betriebskosen liegt. Ein so niedriger Preis für mehr als die Hälfte aller BewohnerInnen wirkt auch dämpfend auf das freie Marktsegment. Hier liegt der Quadratmeterpreis auch nur bei gut 9 Euro – ein Dumpingbetrag gemessen an Wuchermieten in deutschen Metropolen.

Einzelpersonen, die in Wien weniger als 45.000 Euro im Jahr verdienen, können sich für eine Gemeindewohnung bewerben und haben beste Chancen, diese auch zu bekommen, da der Bestand eben groß ist. Bei Familien liegen die Verdienstgrenzen je nach Personenzahl höher. Alleinstehende, wie etwa Wohnungslose, werden mit Apartments versorgt, bei Familien kommt pro zusätzlicher Person ein Zimmer hinzu. Wer einmal eine Gemeindewohnung hat, muss nie wieder ausziehen, auch nicht, wenn sich das Einkommen erhöht. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass in bestimmten Gebieten überwiegend benachteiligte bzw. wohlhabende Menschen wohnen. Ehrlicherweise muss erwähnt werden, dass dies in Wien nur zum Teil gelungen ist: Denn die zwischen 1966 und 1977 erbauten Großfeld-, Rennbahn- und Per-Albin-Hansson-Siedlungen „gelten als Ghettos in einer Stadt, die eigentlich keine Ghettos kennt“, wie Ruth Eisenreich in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung kritisch anmerkt. Dort zitiert sie auch den Stadtplaner Reinhard Seiß, der feststellt: „Jede europäische Stadt hat die Möglichkeit, sozialen Wohnbau zu errichten. Es ist einfach ein Frage des Wollens.“

fiftyfifty hat in Düsseldorf gezeigt, dass Housing First nicht nur funktioniert, sondern insbesondere menschenwürdig und integrativ ist. Deshalb ist nun, wie es einer der ersten Unterstützer von fiftyfifty, der verstorbene Künstler Jörg Immendorff, einmal ausdrückte, „knallhart der Staat gefragt“. Denn jeder Mensch braucht ein Zuhause. hubert ostendorf