Wohnungen für Obdachlose

Stadtdirektor Burkhard Hintzsche sagte vor einer Woche im EXPRESS-Interview, in Düsseldorf müsse niemand auf der Straße schlafen. Stimmt das?

Von Lindern: Wir können diesen Satz nicht mehr hören. In Düsseldorf müssen viele Leute auf der Straße schlafen, aus ganz verschiedenen Gründen. Das Hilfesystem, wie es derzeit ausgelegt ist, ist nicht für alle Leute gemacht.

Was heißt das?

Von Lindern: Zum Beispiel haben EU-Bürger keinen Anspruch auf einen Platz in einer Notschlafstelle. Das ändert die Stadt jetzt zum 1. Juli. Das finden wir natürlich gut. Das ist eine reale Verbesserung. Aber es betrifft auch Obdachlose mit Hunden oder anderen Tieren. Es gibt in nur einer Notschlafstelle für Männer genau zwei Plätze für Hunde. Allerdings auch nur bis zu einer gewissen Größe. Obdachlose Frauen haben gar keine Plätze mit Hund.

Ostendorf: Wir sagen schon seit 24 Jahren, seit es uns gibt: Die Hilfen müssen bedarfsgerecht sein. Das ist so, als wäre man als Vegetarier auf eine Party eingeladen ist und es gibt nur Fleisch. Wem hilft ein Satz „Niemand muss auf der Straße schlafen“, wenn es theoretisch von den Zahlen her zwar Plätze gibt, sie aber nicht der individuellen Situation der Hilfesuchenden entsprechen.

fiftyfifty-Sozialarbeiterin Julia von Lindern und -Geschäftsführer Hubert Ostendorf (Foto: Nicole Gehring)

Burkhard Hintzsche schätzt die Zahl der Menschen, die auf der Straße leben auf irgendetwas zwischen 200 und 400. Was sind Ihre Erkenntnisse?

Ostendorf: Ich halte die Zahl für realistisch. Aber diejenigen, die im Hilfesystem nicht vorstellig werden, werden natürlich nicht erfasst. Und weil das System nicht bedarfsgerecht ist, kommen viele nicht. Deshalb kann man die Zahl leider nur schätzen. Gemessen an der großen Zahl der von Wohnungsnot Betroffenen ist die Zahl der Straßenobdachlosen ja gar nicht so groß – auch, wenn natürlich jedes Schicksal eines zu viel ist. Es muss deshalb doch in einer so reichen Stadt wie Düsseldorf möglich sein, Obdachlosigkeit völlig zu beseitigen.

Um das zu erreichen, verfolgt Ihr bei fiftyfifty seit über drei Jahren das Projekt „Housing First“. Was ist das und wie hat es sich bewährt?

Von Lindern: Bei „Housing First“ geht es darum, den Obdachlosen eigene Wohnungen zu vermitteln. Wir kaufen aus unseren Spendenmitteln und Erlösen unserer Benefiz-Galerie Appartements in der Stadt, in ganz normalen, bürgerlichen Häusern. Dort ziehen dann Leute ein, die eine teilweise jahrzehntelang verfestigte Obdachlosigkeit hinter sich haben. Gerade erst konnten wir einem Mann eine Wohnung besorgen, der mit Unterbrechungen 49 Jahre auf der Straße gelebt hat.

Und wie reagieren die Nachbarn auf diese neuen Hausbewohner?

Ostendorf: Interessanterweise merken die es meist gar nicht, dass es sich um Obdachlose handelt. Denn wir achten darauf, dass es möglichst nicht zu mietwidrigem Verhalten kommt, dass also der Müll korrekt getrennt wird, kein Fahrrad im Flur abgestellt wird und keine Lärmbelästigung erfolgt. Ansonsten dürfen die Mieter bleiben, wie sie sind. So funktioniert Akzeptanz. Dass sich die meisten am Ende dennoch stabilisieren, ist natürlich super.

Und das funktioniert?

Ostendorf: Ja. Von den 60 Ex-Obdachlosen, denen wir Wohnungen besorgt haben, hat es nur eine Frau nicht geschafft. Ein Grund für den Erfolg von Housing First ist auch die Tatsache, dass wir ihnen nicht nur eine Wohnung, sondern auch wohnbegleitende Hilfen und Angebote für eine Tagesstruktur bereithalten, die die Menschen freiwillig und gerne annehmen. Einige haben durch die eigene Wohnung sogar ihre Sucht besiegt, reguläre Jobs gefunden und Familien gegründet. Die halten ihre Wohnung alle sehr sauber, weil es für sie etwas ganz besonders Wichtiges ist.

Und die Stadt verfolgt diesen Ansatz nicht?

Ostendorf: Nein. Dort favorisiert man das betreute Wohnen. Aber um dafür in Betracht zu kommen, muss man Bedingungen erfüllen, etwa das Trinken aufgeben oder reduzieren. Viele Menschen, die chronifiziert obdachlos sind, empfinden das bisherige System als Gängelung und kommen daher nie von der Straße weg. Housing First dagegen ist bedingungslos und führt dennoch zu besseren Resultaten. Zudem ist es preiswerter als das bisherige Hilfesystem, das übrigens gut ausdifferenziert ist und notwendig, das will ich klar sagen, aber eben Langzeitobdachlose nur schwer erreicht. Dass Housing First besser ist, zeigen auch Erfahrungen aus anderen Städten wie etwa Wien, wo es das schon länger gibt und wo wir uns damals ein Projekt angeschaut haben. Oder Finnland. Auch dort setzt man auf Housing First. Und zurzeit wird das Land dafür überall gefeiert. Finnland hat die Obdachlosigkeit überwunden. Das könnte Düsseldorf auch von sich sagen, wenn die Stadt mitmachen würde.

Zum Beispiel wie?

Ostendorf: Ganz einfach: Indem die städtische Wohnungsbaugesellschaft SWD Wohnungen für das Projekt zur Verfügung stellen würde. Oder die Stadt Mittel zum Ankauf von Wohnungen. Es kann doch nicht sein, dass unser kleiner Verein, der jeden Cent dreimal umdrehen muss, in drei Jahren 60 Wohnungen kaufen kann und die vergleichsweise reiche Stadt keine einzige. Und dabei zahlen wir sogar noch Gewerbesteuern an die Stadt für die Erlöse aus unserer Benefiz-Galerie. Wir bekommen also nicht nur kein Geld von der Stadt und holen für diese die Kohlen aus dem Feuer, wir zahlen sogar noch Steuern! Das ist doch unglaublich. In Sachen Housing First haben wir zahlreiche Gespräche auf allen Ebenen bei der Stadt geführt, auch mit Unterstützung der Diakonie. Aber bislang ohne Erfolg. Mehr Unterstützung bekommen wir im Moment vom NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU), der unseren „Housing First-Fonds“, den wir in Kooperation mit dem Paritätischen gegründet haben, unterstützt. Damit wollen wir anderen Hilfsorganisationen in NRW helfen, Wohnungen zu kaufen. Denn Housing First muss nach der sensationell positiven Bilanz bei fiftyfifty in die Breite gehen. Und tut es auch. Wir haben bereits Partner in der Obdachlosenhilfe in vielen Städten des Landes gefunden und es wurden bereits viele Wohnungen von denen gekauft (www.housingfirstfonds.de/).

Doch jetzt hat die Stadt gerade Häuser für die Obdachlosen zur Verfügung gestellt, die am NRW-Forum vertrieben werden sollten.

Von Lindern: Allerdings nur durch den öffentlichen Druck, für den auch wir gesorgt haben. Aber man muss die Stadt dafür loben, dass sie diese Lösung gefunden hat. Das ist für die Obdachlosen sehr gut.

Jetzt ist der Wohnungsmarkt in Düsseldorf angespannt und teuer, merkt man, dass dadurch auch andere Menschen als bislang von Obdachlosigkeit betroffen sind?

Von Lindern: Eindeutig. Wir haben mehr Fälle von ganzen Familien, die durch Eigenbedarfskündigungen oder Entmietungen ohne Wohnung dastehen und durch die hohen Preise in Düsseldorf keine neue für sie bezahlbare mehr finden. Obdachlose, das sind nicht mehr nur die Menschen mit ihrem Hab und Gut in einem Rucksack auf der Parkbank.